20. 01. 2025

Einfach einsteigen und losfahren

Neben einem breiten Angebot fördert auch ein einfaches Zugangs- und Bezahlsystem die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs. In mehreren europäischen Staaten werden zurzeit innovative Modelle erprobt und implementiert. Oft nehmen dabei Schweizer Unternehmen eine zentrale Rolle ein. Diesen Erfahrungen helfen auch bei der Weiterentwicklung des Ticketings in der Schweiz.

Verschiedene Wege führen nach Rom: die europäischen öV-Anbieter testen neue Zugangssysteme, welche Kundinnen und Kunden das Reisen mit dem öV einfacher machen sollen. © BLS

Bereits zum fünften Mal veröffentlicht die LITRA die Studie «Angebot und Preise des Schweizer öV im internationalen Vergleich»; kurz Preisvergleichsstudie. Darin werden jeweils Leistungen und Preise des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz mit jenen in Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden und Grossbritannien verglichen.

In einer Zusatzanalyse wurde untersucht, wie integriert in diesen Ländern die Ticketsysteme sind. Oder aus Sicht des Fahrgasts formuliert: Wie viele Tickets muss man kaufen, um bei Nutzung mehrerer öffentlicher Transportmittel von A nach B zu gelangen? Und: Sind Fahrplan- und Preisauskünfte für alle öV-Anbieter in einem einzigen Portal verfügbar?

Was für Reisende in der Schweiz schon fast eine Selbstverständlichkeit ist – eine Reise = ein Ticket – ist in anderen europäischen Ländern nach wie vor eher die Ausnahme. Das österreichische KlimaTicket oder das Deutschlandticket sind zwei jüngere Beispiele aus Nachbarländern, die den Zugang zum öffentlichen Verkehr ein Stück weit vereinfacht haben.

Allerdings ist das Tarif- und Informationssystem nur in der Schweiz und in den Niederlanden vollständig integriert, wie die internationale Vergleichsstudie festhält. Einzig in diesen beiden Ländern können Kundinnen und Kunden den öV im ganzen Land mit einem einzigen Fahrausweis nutzen.

In den Niederlanden wird kontaktlos bezahlt

Die Niederlande haben mit der OV-Chipkaart ein nationales Fahrkartensystem. Seit 2023 können Reisende mit einer Bank- oder Kreditkarte kontaktlos im gesamten öffentlichen Verkehr des Landes ein- und auschecken (OVpay). «Dies erleichtert den Zugang erheblich, insbesondere für Touristen, da keine OV-Chipkaart mehr erforderlich ist», konstatiert die Vergleichsstudie.

Heute begibt sich kaum noch ein Fahrgast an den Bahnschalter, um ein einfaches Ticket zu lösen. Auch der Gang zum Billettautomaten ist seltener geworden, seit digitale Lösungen für den Ticketerwerb existieren. Vor diesem Hintergrund haben sich die Niederlande für ein Check-in/Check-out-System entschieden, mit dem ein Ticket kontaktlos von der Karte abgebucht werden kann. Die Transaktionszahlen stiegen bereits in den ersten Monaten auf täglich über 1 Million, das System wird somit von den Fahrgästen präferiert genutzt.

Auch in anderen Ländern wurden in jüngster Zeit neue Bezahlsysteme getestet und eingeführt. Europa ist heute quasi ein Labor für die Suche nach der besten Lösung. In vielen Fällen stehen dahinter innovative Firmen mit Schweizer Wurzeln.

BONNsmart gewährleistet Anonymität

Schauplatz Bonn: In der deutschen Stadt befördert die Stadtwerke Bonn Verkehrs-GmbH (SWB) auf 3 Tram-, 6 Stadtbahn- und 50 Bus-Linien mit rund 300 Fahrzeugen 92 Millionen Fahrgäste pro Jahr. 2020 führte die SWB mit BONNsmart ein deutschlandweit bis dahin einzigartiges Bezahlsystem ein. Wie in den Niederlanden bei OVpay wird der Ticketpreis über eine Karte bezahlt. In jedem Verkehrsmittel muss diese beim Ein- und Aussteigen kurz an ein Kartenlesegerät gehalten (engl. tap) werden.

Das IT-System im Hintergrund erfasst die Teilstrecken und belastet am Ende des Tages für alle Fahrten den Preis direkt dem Bankkonto. BONNsmart akzeptiert alle kontaktlosen Kredit- und Debitkarten, Maestro, V PAY, ebenfalls Smartphones oder Smartwatches mit hinterlegtem Zahlungsmittel.

2020 eingeführt, wurde das Bezahlsystem BONNsmart im Jahr 2024 von ca. 10 % der Individualreisenden genutzt: Beim Ein- und Aussteigen wird eine Kreditkarte oder ein anderes Zahlungsmittel an ein Kartenlesegerät gehalten. © Scheidt & Bachmann / Partnerprojekt BONNsmart

Entwickelt wurde das System ebenso wie OVpay vom deutschen Familienunternehmen Scheidt & Bachmann, das mit einer Tochterfirma auch in der Schweiz vertreten ist. Andreas Bieniok, Business Development Manager bei Scheidt & Bachmann Schweiz, sieht einen grossen Vorzug von BONNsmart beim Datenschutz: «Unser System generiert bei jedem Tappen eines Zahlungsmittels kryptografisch einen einmaligen Transaktionscode (Token). Daraus wird eine anonyme Tap-History aggregiert.

Die Abrechnung erfolgt über ein temporäres anonymes Transitkonto, das nur für die Abrechnungsperiode (Tag, Fahrt, Monat) geführt wird. Das Verkehrsunternehmen kennt somit alle Fahrstrecken, aber nicht die Namen seiner Fahrgäste.»

Dänemark setzt auf das Smartphone

Der nördliche Nachbar von Deutschland hatte vor gut zehn Jahren die Rejsekort eingeführt. Mit der Reisekarte konnten Däninnen und Dänen landesweit in den öffentlichen Verkehr ein- und auschecken. Seit Frühjahr 2024 wird dieses System schrittweise durch das Smartphone-basierte FAIRTIQ abgelöst, das 2016 in der Schweiz erfunden wurde: Bei Reiseantritt wird die Fahrt in der FAIRTIQ-App mit einer Wischbewegung gestartet, am Ende der Reise mit einer Wischbewegung wieder beendet.

Seit Frühjahr 2024 ersetzt Dänemark die bisherige Rejsekort und integriert stattdessen die FAIRTIQ-Technologie in sein nationales Ticketing-System. © Banner Kgs. U-Bahn-Station Nytorv, Clear Channel

Nach zwölf Wochen verzeichnete die neue Lösung in Dänemark bereits 100’000 Fahrten täglich, was einem Anteil von 20 Prozent an den Rejsekort-Fahrten entspricht. «Unsere Lösung soll zum Rückgrat des öV werden; sie ist gerade auch für ältere Menschen einfach zu handeln und gewährleistet beim Einsteigen einen optimalen Fahrgastfluss», sagt Gian-Mattia Schucan, Co-CEO und Gründer der FAIRTIQ AG. Die Abrechnung erfolgt täglich über Kreditkarte oder MobilePay, das dänische Pendant zu Twint. Vielfahrer profitieren von einem Mengenrabatt.

2026 soll die Rejsekort ausgemustert und durch eine vereinfachte Kartenlösung ersetzt werden für diejenigen, die die FAIRTIQ-Lösung nicht nutzen können oder wollen. FAIRTIQ ist neben Dänemark in sieben weiteren Ländern verfügbar. Die Schweizer App feierte im letzten November ihre 200-millionste Reise.

London erprobt Be-in/Be-out

Ein Vorzug der dänischen Lösung: Vergisst ein Fahrgast am Ende der Fahrt den Check-out, wird die Reise nach einigen Minuten automatisch beendet. Das ist möglich, weil die App anhand der Ortungs- und Bewegungsdaten erkennt, dass der Nutzer nicht mehr im öV unterwegs ist. Folgerichtig könnte es bald möglich werden, dass die App auch das Einsteigen ins öffentliche Verkehrsmittel erkennt. Damit könnte eine öV-Fahrt ohne Zutun des Fahrgasts automatisch erkannt und abgerechnet werden.

Diese sogenannte Be-in/Be-out-Lösung wird heute von verschiedenen Unternehmen vorangetrieben. Zum Beispiel von der Luzerner Firma Axon Vibe. Sie hat für mehrere Grossstädte ein System entwickelt, das bisher noch nicht für die Ticketerstellung genutzt wird, aber das Potenzial einer Smartphone-gestützten Fahrtenerfassung vor Augen führt.

Mit dieser Kampagne zielt Axon Vibe in London darauf ab, diejenigen Personen, welche zeitweise von zu Hause aus arbeiten, am Montag anstelle von Dienstag bis Donnerstag in den öV zu locken, um diesen gleichmässiger auszulasten. © Axon Vibe Ltd.

In London wurde die Axon-Vibe-Technologie im Dezember 2023 eingeführt. Ein Jahr später nutzten 1.6 Millionen Personen das kostenlose Angebot monatlich mindestens einmal. Die App erfasst das Bewegungsverhalten der Nutzer rund um die Uhr und leitet daraus ihr Reiseverhalten ab. «Auf dieser Grundlage können wir das Mobilitätsverhalten der Menschen beeinflussen, indem wir ihnen alternative Reisezeiten und -wege oder alternative Reisemittel wie Taxi oder Leihfahrräder vorschlagen», sagt Roman Oberli, CEO von Avon Vibe.

Transportunternehmen wie ihre Kundinnen und Kunden profitieren so von einer zügigen Beförderung sowie einer gleichmässigeren Auslastung der Verkehrsmittel und -wege. Die App baut zudem die Brücke zu neuen Geschäftsmodellen: Fahrplantechnisch oder ökologisch erwünschtes Reiseverhalten kann belohnt werden, beispielsweise mit Gratiskaffee bei Starbucks. In New York bezuschusst ein grüner Fonds App-Nutzern die Taxifahrt zur U-Bahn, wenn sie im Gegenzug auf eine Autofahrt ins Stadtzentrum verzichten.

Die Schweiz setzt auf myRIDE

Be-in/Be-out – also die automatische Erkennung einer öV-Fahrt per Smartphone-App – hat das Potenzial, einem Grossteil der Menschen einen selbstverständlichen Zugang zum öffentlichen Verkehr zu ermöglichen. Alliance SwissPass, die Branchenorganisation der Schweizer Transportunternehmen und Verkehrsverbünde, führte ab Mai 2024 den Pilotversuch myRIDE durch, der hauptsächlich dazu dient, ein neues Preissystem zu testen, der aber auch auf eine möglichst einfache Nutzung des öV abzielt. «Wir denken in Richtung Be-in/Be-out, denn damit haben wir ein Smartphone-basiertes System, das auch für jene vorteilhaft ist, die heute mit GA oder einem Verbundabo unterwegs sind», sagt Projektleiter Nick Balmer.

myRIDE soll bis Ende 2026 zu einem einsatztauglichen Ticket- und Bezahlsystem weiterentwickelt werden, das allen Personen einen einfachen Zugang zum öV ermöglicht. Ziel ist eine Lösung, bei der die Fahrgäste die automatische Erfassung wählen können, wenn sie das wollen, aber auch bei jeder Fahrt per Wischbewegung selber ein- und auschecken können.

Auch in der Schweiz soll der Zugang in den öV mit myRIDE vereinfacht werden. Aktuell laufen diesbezüglich erste Feldtests. Bis Ende 2026 soll myRIDE zu einem einsatztauglichen Ticket- und Bezahlsystem weiterentwickelt werden. © SBB

Die neue Lösung soll auch dem Datenschutz Rechnung tragen: In Diskussion sind verschiedene Ansätze der Datensparsamkeit, die Datenspeicherung bei vertrauenswürdigen Dritten, oder eine technische Lösung, bei der die Standortdaten direkt auf dem Smartphone verarbeitet und nur der Ticketpreis an die Transportunternehmen übermittelt wird.

EasyRide mit neuen Funktionen

Heute planen und bezahlen in der Schweiz rund 600’000 Personen ihre öV-Fahrten mit der SBB-App EasyRide. Werden die neuen Funktionalitäten von myRIDE in diese gut eingeführte Smartphone-Lösung übernommen, könnte daraus der neue Standardzugang zum öffentlichen Verkehr in der Schweiz hervorgehen. Ab 2027 könnte die neue Lösung schrittweise eingeführt werden. Ende 2025 entscheidet die öV-Branche, ob und wie das neue Preissystem eingeführt wird.


Bereits zum fünften Mal liess die LITRA im Rahmen einer Preisvergleichsstudie Angebot und Preise des Schweizer öV mit sechs europäischen Ländern vergleichen. © BLS

Preisvergleichsstudie: Das Schweizer öV-Angebot im internationalen Vergleich

Der Schweizer öV geniesst weit über die Landesgrenze hinaus hohe Beliebtheit. Gleichzeitig ereilt ihm den Ruf teuer zu sein – vor allem im Vergleich zum öV im Ausland. Aber stimmt das wirklich? Genau das hat die LITRA im Rahmen einer Preisvergleichsstudie durch das Forschungsbüro INFRAS untersuchen lassen und die Ergebnisse zeigen: Preislich gesehen liegt der öV in der Schweiz im europäischen Mittelfeld, aber qualitativ ist das Angebot hierzulande um Welten besser.

Die Ergebnisse der Preisvergleichsstudie 2024