01. 02. 2019
Wie viel zu spät ist noch pünktlich? Ein Kennzahlenvergleich
1|02|19|litra. Im Mai 2018 diskutierte Marc Vetterli in unserem Blog die Gründe, warum 93% aller Züge der SBB pünktlich sind (Vetterli 2018). Doch wann gilt ein Zug, ein Bus oder eine Tram als pünktlich? Unsere externe Fachredaktorin Kathrin Viergutz beschäftigt sich in diesem Blogbeitrag mit der Frage, wie wichtig Pünktlichkeit eigentlich ist und beschreibt unterschiedliche Definitionen der Kennzahl Pünktlichkeit in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich.
Wie wichtig ist Pünktlichkeit?
„Sie haben da eine Lücke im Lebenslauf!“, „Ja, da habe ich auf die Bahn gewartet“. Auch wenn dieser Witz überspitzt ist, so stellt er doch die Sachlage korrekt dar – zumindest so, wie sie von vielen Fahrgästen wahrgenommen wird: Viele Züge fahren verspätet. Die Kernaufgabe von Verkehrsmitteln besteht darin, Ortsveränderungen von Menschen zu ermöglichen und dabei zuverlässig, planbar und sicher zu sein. Doch ganz so leicht zu definieren sind diese Aspekte nicht. Wie wichtig ist Pünktlichkeit für Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel wirklich?
„Die Pünktlichkeit ist abgesehen von der Sicherheit das zentrale Qualitätsmerkmal im öffentlichen Verkehrs“, schreibt Vetterli (2018) in seinem Blogbeitrag und auch eine szenarienbasierte Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. kam zu dem Ergebnis, dass Wartezeiten die durch die Nutzer wahrgenommene Qualität eines öffentlichen Verkehrsmittels verringern (Viergutz 2018). Diese Wartezeit wird im Wesentlichen von zwei Komponenten bestimmt, „nämlich von Taktfrequenz (Fahrzeugfolgezeit) und Pünktlichkeit des Verkehrsmittels“ (Walther & Norta 2002). In den ADAC- Empfehlungen für einen anwenderorientierten öV in Ballungsräumen wird vermutet, dass eine Verbesserung der Pünktlichkeit und der Zuverlässigkeit „41 Prozent der umsteigewilligen öV-Nicht- und Wenignutzer zum Umstieg auf den öV bewegen“ würde (ADAC 2017).
Die Schrift Nr. 145 der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. (FGSV) differenziert Pünktlichkeit in subjektive und objektive Pünktlichkeit. Die objektive Pünktlichkeit beschreibt dabei den messbaren Vergleich des Soll-Fahrplans mit realisierten Werten. Unter subjektiver Pünktlichkeit wird die von Fahrgästen empfundene Pünktlichkeit verstanden (FGSV 2006). Insbesondere bei Verbindungen, für die ein Umstieg notwendig ist, ist Pünktlichkeit wichtig. Ein Stillstand wird dabei von Fahrgästen als besonders unangenehm empfunden (ADAC 2017). Außerdem wird die sogenannte out-of-vehicle-time – die Zeit also, die außerhalb eines Verkehrsmittels verbracht wird – als unangenehmer empfunden als die Zeit im Fahrzeug (in-vehicle-time) (Iseki & Taylor 2009). Mehrere Studien befassen sich mit genau dieser Abweichung der wahrgenommenen Zeit in und außerhalb eines Verkehrsmittels. Monheim (2010) stellt beispielsweise ein um etwa 140 % stärkeres Gewicht der außerhalb von Verkehrsmitteln verbrachten Wartezeit gegenüber der realen Wartezeit fest. Bei der Zeit, die im Fahrzeug verbracht wird, sind es rund 70% gegenüber der realen Zeit. Monheim schlussfolgert daraus, dass „eine Minimierung der Zu- und Abgangszeiten durch kurze Wege und eine Minimierung der Wartezeiten durch dichten Fahrplan und gute Anschlusssicherung [...] den Zeitnutzen“ maximiert (ebd.). Oberzaucher und Rüger (2018) betonen, dass „die Einhaltung des Fahrplanes ein wichtiges Ziel, das an sich auch von den Fahrgästen geschätzt wird. Noch mehr Wert legen Fahrgäste jedoch auf ein möglichst schnelles Erreichen ihres Ziels auf individueller Ebene.“
Messkriterien in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich
Echtzeitdaten ermöglichen die Kommunikation von Verspätungen an Fahrgäste. So können den Abfahrtsanzeigen an vielen Haltestellen und Bahnhöfen Echtzeitdaten entnommen werden. Außerdem können Fahrgäste sich online über Fahrplanabweichungen informieren. einige Beispiele für die Kommunikation von Echtzeitdaten mithilfe von Smartphone-Apps sowie Haltestellenanzeigen sind im Artikel „Auswirkungen flexibler öffentlicher Mobilitätskonzepte auf digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten“ von Viergutz & Brinkmann (2017) beschrieben. Wer nicht nur ausgewählte Linien betrachten, sondern einen Überblick über den aktuellen Betriebsablauf erhalten möchte, hat bei einigen Verkehrsunternehmen die Möglichkeit, Livekarten abzurufen. Ein Beispiel ist die VBB Livekarte des Verkehrsverbundes Berlin Brandenburg, die auf Abbildung 1 zu sehen ist.
Abbildung 2 zeigt die Definitionen von Pünktlichkeit ausgewählter Verkehrsunternehmen. Der angegebene Wert beschreibt dabei die Fahrplanabweichung bei Ankunft an der Haltestelle, die gerade noch als pünktlich betrachtet wird. Bei der Deutschen Bahn AG und den Österreichischen Bundesbahnen beispielsweise gelten Fern- und Regionalzüge bis zu einer positiven Fahrplanabweichung von 5:59 Minuten als pünktlich. Die Berliner Verkehrsbetriebe AöR erlauben ihren Bussen, Straßenbahnen und U-Bahnen eine positive Fahrplanabweichung von 3:30 Minuten, sowie eine zu frühe Abfahrt an der Haltestelle von 1:30 Minuten.
Quellen zur Abbildung 2: [1] https://www.zugreiseblog.de/bahn-puenktlichkeit-statistik [2] https://www.bahn.de/p/view/service/auskunft/puenktlichkeit_personenverkehr.shtml [3] https://www.morgenpost.de/berlin/article211991099/Berliner-S-Bahn-verfehlt-Puenktlichkeitsziel-klar.html [4] https://interaktiv.morgenpost.de/verspaetungen-berlin [5] https://news.sbb.ch/artikel/76242/puenktlichkeit-unter-der-lupe [6] https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2016/so-puenktlich-ist-ihre-vbz-linie
Über zu früh abfahrende und deshalb verpasste Busse und Bahnen ärgern sich Fahrgäste noch mehr als über zu späte Abfahrten. Aus diesem Grund sind die Toleranzwerte für Verfrühungen geringer als jene für Verspätungen. Legendär sind in diesem Zusammenhang die Entschuldigungen japanischer Eisenbahnunternehmen für Abfahrten, die 25 Sekunden zu früh erfolgten (Haase 2018).
Zu den Werten der Verfrühung liegen mir derzeit keine vollständigen Informationen aller betrachteter Verkehrsunternehmen vor – über Hinweise und Ergänzungen freue ich mich!
Fazit
Wie der Kennzahlenvergleich gezeigt hat, werden Pünktlichkeitswerte im Fern-, Regional- und Nahverkehr in unterschiedlichen Verkehrsunternehmen unterschiedlich definiert. Dass unpünktliche Busse und Bahnen insgesamt dem Image öffentlicher Verkehrsmittel schaden, zeigt ein Blick in die FGSV-Schrift Nr. 145: „Die Pünktlichkeit ist aus Sicht des Kunden ein elementares Qualitätskriterium, das unabhängig von Organisations- und Verwaltungsgrenzen im öV einheitlich wahrgenommen wird“ (FGSV 2006). Unabhängig vom gesetzten Toleranzwert sollte deshalb das vorrangige Ziel der Betreiber sein, eine zuverlässige Beförderung der Fahrgäste zu gewährleisten. Sollte dies nicht möglich sein, sollten Abweichungen und Echtzeitdaten zeitnah und zuverlässig an Fahrgäste kommuniziert werden: „Unpünktlichkeit wird dann als besonders unangenehm empfunden, wenn keine adäquate Information über die Verspätung vorliegt“ (ADAC 2017).
Eine Möglichkeit zur Verbesserung der Pünktlichkeit liegt in der Anpassung der Fahrpläne auf Basis der Erfahrungen von Verspätungen und Engpässen: „Realistische Fahrpläne sind eine der Voraussetzungen für einen pünktlichen Betriebsablauf mit verlässlicher Einhaltung von Anschlüssen, die Kenntnis über mögliche Störungsquellen und deren Beseitigung eine andere“ (FGSV 2004).
Zuletzt bleibt nur zu sagen: Als Fahrgast tut man gut daran, das Ganze mit Humor zu nehmen, vielleicht sogar auf solch kreative Weise wie in Abbildung 3 zu sehen.
Quellenverzeichnis
ADAC e.V. (2017): ADAC Empfehlungen für einen anwenderorientierten ÖPNV in Ballungsräumen. Allgemeiner Deutsche Automobil-Club e.V. Ressort Verkehr - Verkehrspolitik (VPO). Abrufbar unter https://www.adac.de/_mmm/pdf/fi_anwenderorientierten_oepnv_50115.pdf
FGSV (2004): Verlässliche Bedienung im öffentlichen Personenverkehr - Empfehlungen zur Vermeidung von Verspätungen, Anschlussverlusten und deren Auswirkungen. Arbeitsausschuss Öffentlicher Verkehr - Arbeitskreis Anschlusssicherung: FGSV Nr.64 (Ausgabe 2004)
FGSV (2006): Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. Arbeitsgruppe Verkehrsplanung. Arbeitsausschuss Öffentlicher Verkehr. Schrift 145. Qualitätskriterien im ÖV: Hinweise für die Qualitätssicherung im ÖPNV
Haase, J. (2018): Zuggesellschaft entschuldigt sich wegen verfrühter Abfahrt. Welt Online. Abrufbar unter: https://www.welt.de/kmpkt/article176370212/Japan-Zuggesellschaft-entschuldigt-sich-wegen-25-Sekunden-verfruehter-Abfahrt.html
Iseki, H.; Taylor, B.D. (2009): Not all transfers are created equal: Towards a framework relating transfer connectivity to travel behaviour. Transportation Review 29 (6), S. 777–800.
Monheim, H. (2010): "Gutachten Finanzierung der Verkehrssysteme im ÖPNV – Wege zur Nutzerfinanzierung oder Bürgerticket?" abrufbar unter: http://www.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.6_Dez6_Stadtentwicklung_Bau/66_Verkehrs_und_Tiefbauamt/Fachgutachten_Monheim.pdf
Oberzaucher, E.; Rüger, B. (2018): Nudging im ÖPNV – menschengerechtes Design für optimierte Betriebsqualitäten. Eisenbahntechnische Rundschau. Ausgabe 12 - 2018. S. 74 - 76.
Vetterli, M. (2018): Warum 93% aller Züge der SBB pünktlich sind. Online-Blog von Litra. Abrufbar unter: https://www.litra.ch/de/Detail?filterCategory=7&newsid=8336 (abgerufen am 14.08.2018)
Viergutz, K. (2018): Walking, Waiting, Interchanging: A Scenario-Based Analysis of User Requirements in Local Public Transport. Internationales Verkehrswesen, 70 (1), Seiten 42-46. Deutscher Verkehrs Verlag Media Group, Hamburg. ISSN 0020-9511. Abrufbar unter: https://elib.dlr.de/124333/
Viergutz, K.; Brinkmann, F. (2017): Auswirkungen flexibler öffentlicher Mobilitätskonzepte auf digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten. Mobilität und digitale Transformation - Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte. SpringerGabler. Abrufbar unter: https://elib.dlr.de/113118/1/DLR-TS-Viergutz_Brinkmann_Fahrgastinformation_Mobilityondemand_20170728.pdf
Walther, K.; Norta, M. (2002): Der Einfluss der Wartezeit auf die ÖPNV-Qualität. Der Nahverkehr 7-8/2002 S.36-38
Porträt
Kathrin Viergutz ist Verkehrsingenieurin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Verkehrssystemtechnik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. Dabei beschäftigt sie sich unter anderem mit der Erforschung und Entwicklung innovativer Mobilitätskonzepte und stellt sich die Frage, wie die öffentlichen Verkehrsmittel der Zukunft flexibler und zuverlässiger werden können.