15. 04. 2021
15. 04. 2021
Von Tram und Bus zu vielen Mobilitätsangeboten
Nicht erst seit dem Beginn der Corona-Krise sieht sich der klassische öffentliche Linienverkehr heraufziehenden Veränderungen gegenüber. In urbanen Räumen etablieren sich neue Mobilitätsangebote wie Miet-Velos oder Miet-Trottinette, und die digitale Vernetzung vereinfacht Transportketten aus verschiedenen individuellen und kollektiven Fortbewegungsformen. Am Frühlingsforum der Städtekonferenz Mobilität diskutieren Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Verwaltung zusammen mit externen Experten, wie Städte und Verkehrsunternehmen darauf reagieren sollen. Der Gastbeitrag von Paul Schneeberger, Geschäftsführer der Städtekonferenz Mobilität.
Seit rund 150 Jahren ist der klassische öffentliche Linienverkehr ein prägendes Element von Städten und Agglomerationen. Ungeachtet all der mehr oder weniger erfolgreichen Versuche in den letzten 70 Jahren, die Städte «autogerecht» umzubauen, ist er bis heute in vielen europäischen Städten der rote Faden für die bauliche Entwicklung. Wer auf Städte blickt, deren Entwicklung weniger von Seen, Flusstälern und Wäldern vorgegeben ist als in der Schweiz, erkennt diese Wirkung in ausgeprägtem Masse. Ein plakatives Beispiel dafür sind die «Velostadt» Kopenhagen und ihre Vorstädte. Sie breiten sich nicht, wie man vermuten könnte, einfach in einem Halbkreis um den Öresund herum aus, der ihnen im Osten eine natürliche Grenze setzt. Nein, die Siedlungen, die sich nach Westen erstrecken, orientieren sich an S-Bahnlinien und greifen wie Finger ins flache Hinterland aus, zwischen denen grüne Korridore liegen.
Individuell statt kollektiv
So wie S-Bahn, Metro, Tram und Bus bis heute strukturbildende Elemente in Städten und Agglomerationen sind, so sind sie dort auch Synonyme für die Grundversorgung mit Mobilität. «Wo wir fahren, lebt Zürich» lautete vor etwas mehr als drei Jahrzehnten ein in seinem Anspruch und seiner Prägnanz bis heute unerreichter Slogan der Verkehrsbetriebe Zürich. Seit einem Jahrzehnt aber wird diese Gleichung immer mehr in Frage gestellt. Die Individualisierung der Gesellschaft und die Digitalisierung der Technik lassen traditionelle Angebote, die wie Uhrwerke funktionieren und gewisse Strukturen vorgeben, als altbacken erscheinen und alles, was auf Zuruf individuell bereitsteht, als modern, zeitgemäss und zukunftsgerichtet – das gilt für die Mobilität ebenso wie für die Medien.
Nirgendwo manifestiert sich das deutlicher als bei den Mobilitätsangeboten in grösseren Städten. Neben den herkömmlichen Taxis buhlen dort mittlerweile auch neue Fahrdienste mit Autos um jene Menschen, die möglichst niederschwellig und individuell von A nach B kommen wollen. Und Miet-Velos und Miet-Trottinette sind im Laufe des letzten Jahrzehnts zu Bestandteilen des öffentlichen Mobiliars geworden. Im vergangenen Jahr hat sich diese Entwicklung weg vom kollektiven und hin zum individuellen Verkehr akzentuiert.
Neue Rollen gesucht
Der sanitarisch begründete Appell, Massenverkehrsmittel zu meiden, um Ansteckungen mit dem Corona-Virus zu vermeiden, hat Bahn, Tram und Bus temporär vom zentralen Pfeiler zur Paria der Mobilität in Ballungsräumen gemacht. Inwiefern der Schock des vergangenen Jahres nachwirkt und wie viele Menschen dem Massenverkehr auf Dauer den Rücken kehren werden, lässt sich erst dann einschätzen, wenn die Pandemie zumindest soweit beherrschbar geworden sein wird, dass das Vermeiden zwischenmenschlicher Kontakte nicht mehr die oberste Maxime ist.
Dass die Menschen dort, wo sie in hoher Dichte zusammenleben, wieder in die herkömmlichen öffentlichen Verkehrsmittel zurückkehren werden, ist absehbar. Dennoch stehen drei grosse Fragen im Raum: Wo und wie wird der klassische Linienverkehr auf Dauer Bestand haben? Wo kommt er unter Druck, weil neue Angebote spezifischen Siedlungsformen besser gerecht werden – zum Beispiel Bedarfsbusse oder Mietvelos in locker bebauten Quartieren? Und welche Rolle sollen die Städte als Gemeinwesen und Bestellerinnen auf der einen Seite und ihre Verkehrsbetriebe als Wissensträger und Ersteller von Mobilitätsdienstleistungen dabei spielen?
Traditionelle Integratorinnen
So wie Städte schon immer Integratorinnen waren, die alle möglichen Entwicklungen, Strömungen und Interessen unter einen Hut bringen mussten, weil die Dichte an Menschen und Bauten nur ein Miteinander und kein Gegeneinander zulässt, sind sie und ihre Verkehrsunternehmen auch prädestiniert dafür, den Begriff der Grundversorgung mit Mobilität neu zu interpretieren. Sie können ihre Rollen neu definieren und Schritte ins Auge fassen, um von reinen Anbieterinnen von Linienverkehr zu vernetzenden Koordinatorinnen verschiedenster Mobilitätsangebote zu werden, die zum Beispiel an die jeweiligen Siedlungsformen optimal angepasst sind.
Von den Antworten auf diese grundlegenden Fragen wird auch abhängen, nach welchen Kriterien der knappe Strassenraum künftig verteilt werden soll. Wo der klassische, in hohem Masse flächeneffiziente Linienverkehr roter Faden der Siedlungsentwicklung und Rückgrat der Mobilität bleibt, weil viele Menschen zu befördern sind, wird er auch weiterhin oder neu Priorität geniessen. Wo er sich die Rolle des Grundversorgers künftig mit anderen Verkehrsmitteln teilt, dürfte auch die Verteilung des Strassenraums neu ausgehandelt werden.
Leitlinie des Handelns in diesen Fragen kann für die Städte und ihre Verkehrsunternehmen ein anderer Slogan eines urbanen Verkehrsunternehmens aus den 1980er Jahren sein: «Roulez rusé», «fahren sie schlau», zwinkerte das Maskottchen der Transports publics genevois 1987 den Genferinnen und Genfern zu. Diesem Credo des kleinen Fuchses ist nichts entgegenzuhalten, ausser, dass jedes Fahren mit Zufussgehen beginnt und endet. Heute und in Zukunft.
Am Frühlingsforum 2021 diskutieren am Nachmittag des 20. April Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Verwaltung zusammen mit externen Experten, wie der öffentliche Verkehr in den Städten weiterentwickelt werden soll. Programm und Anmeldung: www.skm-cvm.ch
Paul Schneeberger (*1968), promovierter Historiker, MAS Raumplanung ETH ist seit 2018 Leiter Verkehrspolitik des Schweizerischen Städteverbandes und Geschäftsführer der Städtekonferenz Mobilität, der die zehn grössten Städte sowie verschiedene Agglomerationsstädte der Schweiz angehören.