23. 11. 2018

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23. 11. 2018

Verkehrsmittelwahl als Knacknuss: Hürden, Abhängigkeiten und Alternativen unserer Mobilitätsmuster

Leute davon zu überzeugen, verschiedene Verkehrsmittel zu benutzen, ist wahrlich kein einfaches Unterfangen. Die Raumplanung und Verkehrswissenschaft verwendet den Begriff «captivité modale», um die Wechselkosten oder Hürden für einen Umstieg zu bezeichnen. Diese Art «Gefangenschaft» bei der Nutzung eines Verkehrsmittels ist zentraler Treiber der Mobilitätsnachfrage sowie der Steuerung und Verlagerung des Verkehrs. In seinem Blogartikel beschreibt Marc-Edouard Schultheiss die Auswirkungen dieser Abhängigkeit.

Viele Haushalte sind auf ein Auto angewiesen, um den Alltag zu bewältigen, ob kurz- oder langfristig. Genauso ist ein Auto für bestimmte Berufsgruppen erforderlich oder wenn es darum geht, bestimmte Infrastrukturen aufzusuchen (Krankenhäuser, Einkaufszentren usw.). Fehlt in solchen Situationen ein Auto, schränkt dies die Bewegungsfreiheit der Nutzer ein. Folglich sind die Leute gezwungen, ein bestimmtes Beförderungsmittel zu benutzen. Das heisst, beim Entscheidungsprozess ist die Anzahl der alternativen Beförderungsmittel begrenzt. Dieser Zwang – oder eben die „captivité modale“ - besteht auf dem ersten und letzten Kilometer, was die Frage nach einem geschlossenen Transportsystem aufwirft: Trotz aller Anstrengungen zur Einrichtung eines leistungsstarken öffentlichen Verkehrs (oder gar von On-Demand-Dienstleistungen), gibt es noch kein Angebot, das das gleiche Mass an Flexibilität und Komfort bietet wie das Auto.Viele Haushalte sind auf ein Auto angewiesen, um den Alltag zu bewältigen, ob kurz- oder langfristig. Genauso ist ein Auto für bestimmte Berufsgruppen erforderlich oder wenn es darum geht, bestimmte Infrastrukturen aufzusuchen (Krankenhäuser, Einkaufszentren usw.). Fehlt in solchen Situationen ein Auto, schränkt dies die Bewegungsfreiheit ein. Folglich sind die Leute gezwungen, ein bestimmtes Beförderungsmittel zu benutzen. Das heisst, beim Entscheidungsprozess ist die Anzahl der alternativen Beförderungsmittel begrenzt. Dieser Zwang – oder eben die „captivité modale“ - besteht auf dem ersten und letzten Kilometer, was die Frage nach einem geschlossenen Transportsystem aufwirft: Trotz aller Anstrengungen zur Einrichtung eines leistungsstarken öffentlichen Verkehrs (oder gar von On-Demand-Dienstleistungen), gibt es noch kein Angebot, das das gleiche Mass an Flexibilität und Komfort bietet wie das Auto.

Individuell statt gemeinschaftlich

In der Analyse der Fahrzeugnutzung ist der Individualismus ein zentraler Aspekt. Laut Mikrozensus 2015 liegt der durchschnittliche Besetzungsgrad der Personenwagen, die täglich in der Schweiz verkehren, bei 1,6 Personen. Im Pendlerverkehr ist er mit 1,1 Personen sogar noch niedriger. Die Schweizer legen täglich 36 km zurück, davon im Schnitt 23 km im Personenwagen, 7,5 km mit dem Zug und 1,5 km mit öffentlichen Strassenverkehrsmitteln. Der Personenwagen als unabhängiges Fahrzeug dominiert also nach wie vor das Verkehrsbild. Dabei bieten einfache Lösungen wie etwa Fahrgemeinschaften ein enormes Potenzial, diese Dominanz zu brechen. Die Dominanz des Motorisierten Individualverkehrs hat eine Vielzahl von Auswirkungen –zum Beispiel auf die Umwelt, die Flächennutzung und auf die öffentliche Gesundheit. Dennoch bringt der Individualismus im Verkehr einen Vorteil in Form von Bewegungsfreiheit mit sich, den die meisten Haushalte nicht aufgeben wollen. Sie gehen bei der Gestaltung ihrer Lebensweise und ihres Alltags davon aus, dass sie grundsätzlich ein Fahrzeug zur Verfügung haben. Hinzu kommt, dass das Auto oftmals mit einem Gefühl der Freiheit einhergeht und für Emanzipation und einen gewissen sozialen Status steht. So entsteht ein unterschiedliches Mass an Abhängigkeit vom Auto, denn mit einem alternativen Beförderungsmittel könnten die Menschen sich nicht so unkompliziert fortbewegen. Dazu wäre nicht nur eine gemeinsame Nutzung der Verkehrsmittel erforderlich, sondern auch eine gemeinsame Nutzung von Ressourcen und Orten sowie eine starke Umstrukturierung der einzelnen Lebensbereiche (Arbeit, Freizeit, Familie usw.). Ausserdem hängt die Wahl des Beförderungsmittels von sozioökonomischen und kulturellen Prägungen jedes Einzelnen ab. Wie in Abbildung 1 dargestellt, fahren Männer beispielsweise häufiger mit dem Auto als Frauen. Was die geografische Verteilung angeht, wird in der Romandie und im italienischsprachigen Teil der Schweiz häufiger das Auto benutzt als im deutschsprachigen Teil.fiS

Stadtmorphologie

Neben den erwähnten gesellschaftlichen Gepflogenheiten und den allgemeinen Präferenzen spielt auch die Stadtmorphologie eine Rolle bei Frage nach der Abhängigkeit vom Auto. Dazu gehören z. B. Konzepte, die eine Strecke für Fahrradfahrer attraktiver machen, wie etwa ein abgetrennter Fahrradweg, Geschwindigkeitsbegrenzungen beim Überholen von Radfahrern usw. Verkehrssysteme gehören ebenfalls zur Morphologie und können die Anteile der einzelnen Beförderungsmittel beeinflussen, wobei die Dichte des Verkehrsnetzes und die Qualität des Angebots entscheidende Kriterien sind. Die unterschiedliche Erreichbarkeit von ländlichen und städtischen Gebieten ist ein guter Indikator: Aktuellen Zahlen für den Kanton Bern zufolge hatten im Jahr 2015 57 % der Haushalte in der Stadt Bern kein Auto, kantonsweit waren es nur 25 %. In Lausanne, dem Hauptort des Kantons Waadt, waren es 46 % im Vergleich zu 21 % auf Kantonsebene. Abbildung 1 ist ebenfalls zu entnehmen, dass die Bewohner städtischer Gebiete nur in 59 % der Fälle mit dem Auto unterwegs sind, während es ausserhalb der Städte 72 % sind. Neben dem öffentlichen Verkehrsnetz hat auch die Einteilung von Städten in monofunktionale Gebiete (auch Zoning genannt) zur Zersiedelung und somit zur Abhängigkeit vom Auto beigetragen. In Abbildung 2 ist der negative Kreislauf von Stadtmorphologie und Pkw-Nutzung dargestellt.

Durch die steigende Motorisierung und zunehmenden Verkehr gibt es dauerhaft Druck, ein noch leistungsfähigeres Strassennetz zu entwickeln. Gleichzeitig nimmt die Zeit, die für eine gewisse Strecke benötigt wird, immer weiter ab und es kommt zu Zersiedelung, wodurch wiederum eine weitere Motorisierung erforderlich wird usw. Auf dieser Logik basierte der Städtebau in den 2000er Jahren grösstenteils. Zahlreiche Forschungen und Versuche haben jedoch gezeigt, dass dieser negative Kreislauf durch die Entwicklung von gemischten Stadtgebieten mit überschaubarer Grösse in einen positiven Kreislauf umgewandelt werden kann. Beispiele dafür finden sich im Zentrum Londons, am Seineufer in Paris oder am New Yorker Times Square, wo der öffentliche Raum neubelebt wurde. In vielen Quartieren wird mittlerweile wieder mehr Wert auf Nähe gelegt, wodurch der Mobilitätsbedarf sinkt und der Langsamverkehr gefördert wird. In der Folge entstehen weniger Staus und der Fluss der öffentlichen Verkehrsmittel wird verbessert. In einigen schweizerischen Städten wie etwa Genf oder Zürich ist der Wandel bereits in vollem Gange. Dort geht der Motorisierungsgrad – wie in Tabelle 1 dargestellt – stark zurück. An dieser Stelle sollte auch angemerkt werden, dass in den Städten, in denen der Motorisierungsgrad ohnehin bereits sehr niedrig ist, wie etwa Basel, offenbar eine untere Schwelle erreicht wurde. Hier ist der Wert zwischen 2006 und 2015 stabil geblieben.

Das vorherrschende Modell ist immer noch die individuelle Motorisierung. Das zeigen vom BFS und vom ARE veröffentlichte Daten: 78 % der Haushalte verfügen über mindestens ein Auto, während nur 57 % der Schweizer ein Abo für öffentliche Verkehrsmittel haben (ländliche und städtische Gebiete zusammengefasst). Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass in der Zukunft verstärkt auf den Langsamverkehr zurückgegriffen wird. Dies hängt teilweise damit zusammen, dass die Gebrauchsmuster sich ändern, wodurch Haushalte auf dem Land und in der Stadt sich von Ihrem Zwang zur Nutzung eines bestimmten Beförderungsmittels lösen können. MaaS (Mobility as a Service) macht sich beispielsweise zunutze, dass gerade jüngere Generationen immer häufiger Dinge lieber nur nutzen als sie zu besitzen. Insbesondere beim Ruftaxi, dem Leihvelo oder Carsharing gilt die Devise: Es ist nicht mehr wichtig, ein Fahrzeug zu besitzen, man muss nur darauf zurückgreifen können. Aktuelle Zahlen zeigen ausserdem, dass das Interesse am Besitz eines Führerausweises bei den 18- bis 24-Jährigen deutlich abgenommen hat. Dieses Phänomen bezeichnet Vincent Kaufmann, Professor am Laboratorium für Stadtsoziologie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EFPL), als eine Emanzipation, die sich eher in der Nutzung der sozialen Netzwerke als durch den Besitz eines Autos äussert.

Das Mobilitätsverhalten ändert sich. In den letzten Jahrzehnten zersiedelte Städte werden verdichtet, wobei grosser Wert auf Multifunktionalität gelegt wird. Mit dem technischen Fortschritt und der Möglichkeit einer Übertragung von Informationen in Echtzeit verbessert sich auch das Angebot des öffentlichen Verkehrs. Zudem entsteht ein öffentliches Bewusstsein für die Bewertung der Ressourcen, wie etwa fossiler Energien, von Zeit oder Raum.Auch wenn die Abhängigkeit vom Auto aufgrund von gesellschaftlichen Gepflogenheiten und fest verankerten Lebensweisen stark bleibt, befinden wir uns in Sachen Mobilität am Anfang eines Paradigmenwechsels.

Quellen

Figure 1 : Résultats du microrecensement mobilité et transports 2015 https://www.bfs.admin.ch/bfs/fr/home/actualites/quoi-de-neuf.assetdetail.1840478.html
Figure 2 : Marc-Edouard Schultheiss, inspiré d’informations sur vivreenville.org. Icônes tirées de thenounproject, by Iqlil R, Gan Khoon Lay, Iconathon, Andrejs Kirma, Barracuda, iconsmind.com, Cho Nix.
Figure 3 : Microrecensement Mobilité et Transport (MRMT), OFS 2017
Tableau 1 : Observatoire de mobilité de la ville de Lausanne 2015
- OFS, ARE – Micro-recensement mobilité et transports (MRMT) FR, DE
- Observatoire de mobilité de la ville de Lausanne, 2015
- Mobilität in der Region Bern-Mittelland Mikrozensus 2015 zum Verkehrsverhalten, 2018