04. 06. 2025
04. 06. 2025
Stuttgart 21: Deutsche Bahn probt in Stuttgart den Aufbruch
Die Eisenbahn für das 21. Jahrhundert flott machen – das ist die Vision des Grossprojekts Stuttgart 21. Nach über 30 Jahren Planung und Bau geht der neue Eisenbahnknoten im Dezember 2026 in Betrieb. Zahlreiche Bahnverbindungen im Südwesten Deutschlands werden profitieren. Aus Schweizer Sicht interessiert insbesondere die konsequente Digitalisierung der Leit- und Sicherungstechnik im gesamten Bahnknoten.

Blick auf den unterirdischen Durchgangsbahnhof und den denkmalgeschützten Bonatzbau (Empfangsgebäude des bisherigen Kopfbahnhofs) aus dem Jahr 1922. © Deutsche Bahn
Von Benedikt Vogel, freischaffender Autor
Viele Wege führen aus der Schweiz nach Deutschland, darunter drei wichtige Bahnverbindungen: Ab Basel führt die Rheintalbahn über Freiburg und Karlsruhe nach Frankfurt, Hamburg oder Berlin.
Wer nach München will, erreicht die bayrische Metropole ab St. Margrethen mit dem EuroCity in gut zwei Stunden. Etwa gleich lang dauert die Fahrt mit der Gäubahn von Schaffhausen in die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart.
Durchgangsbahnhof für Stuttgart
Diese dritte Verbindung steht vor grossen Veränderungen. Im Dezember 2026 findet das Bahngrossprojekt Stuttgart 21 den vorläufigen Abschluss mit der Eröffnung seines Herzstücks: In Stuttgart geht der unterirdische Durchgangsbahnhof mit acht Gleisen in Betrieb.
Stuttgart 21 ist indessen weit mehr als die Tieflegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Zum verkehrstechnisch wie baulich komplexen Grossprojekt gehören vier neue Bahnhöfe, 56 Kilometer Tunnel, 42 Brücken und über 100 Kilometer neue Gleise, die mit bis zu 250 km/h befahren werden können.
Der Ausbau mit Gesamtkosten von rund 11 Milliarden Euro kommt nicht nur Stuttgarterinnen und Stuttgartern zugute, sondern drei Viertel der elf Millionen Einwohner Baden-Württembergs. Sie profitieren von umsteigefreien Verbindungen und erheblich verkürzten Reisezeiten im Fern- und Regionalverkehr.
Die Strecke Ulm-Stuttgart-Mannheim, die Baden-Württemberg von Osten nach Nordwesten quert, wird neu in 62 Minuten (statt 101 Minuten) zurückgelegt. Der Zeitgewinn ist unter anderem der 60 Kilometer langen Schnellfahrstrecke Wendlingen-Ulm zu verdanken, die parallel zu Stuttgart 21 gebaut wurde und im Dezember 2022 den Betrieb aufnahm.
Wer zwischen den Studentenstädten Heidelberg und Tübingen reist, ist neu umsteigefrei unterwegs. Die Fahrtzeit ab Stuttgart Hbf zum Flughafen Stuttgart schrumpft von 27 auf sechs Minuten.

Ab 2032, so der Plan, wird die Gäubahn über den Flughafen Stuttgart nach Stuttgart Hauptbahnhof geführt. © Deutsche Bahn
30 Prozent höhere Kapazität
«Mehr als zehn Millionen Fahrgäste allein im Fernverkehr werden jährlich vom Ausbau des Bahnknotens Stuttgart und der Schnellfahrstrecke Wendlingen-Ulm profitieren», sagt Jörg Hamann im Namen der Deutschen Bahn.
Die Nachfrage wird gemäss Prognosen jährlich um zwei Millionen Reisende ansteigen und damit zur Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene beitragen. «Stuttgart 21 schafft auch die Grundlage für die Einführung des Deutschlandtakts – also stündliche Bahnverbindungen – im Südwesten Deutschlands», betont Jörg Hamann.
Der bisherige Kopfbahnhof in Stuttgart hatte 16 Gleise, aber nur 5 zu- und abführende Gleise, was zu Engpässen führte. Die acht Gleise des neuen Durchgangsbahnhofs bewältigen in den morgendlichen Spitzenzeiten stündlich mindestens 49 Züge (statt bisher 37), was einer Kapazitätssteigerung um 30 Prozent entspricht.
Weitere Transportkapazitäten stellen am Hauptbahnhof die S-Bahn (zwei Gleise) und die Stadtbahn (sieben Bahnsteinkanten an zwei Haltestellen) bereit. Zudem entlastet ein externer Abstellbahnhof den Durchgangsbahnhof. Nach dem Ausbau der Bahninfrastruktur und dem Umbau des denkmalgeschützten Bahnhofsgebäudes in ein Dienstleistungszentrum werden im Bahnhof Stuttgart an einem durchschnittlichen Wochentag rund 300'000 Fahrgäste und Passanten erwartet. Zum Vergleich: Beim Zürich HB sind es rund 400'000.

Für den achtgleisigen Durchgangsbahnhof wurde ein Leistungsnachweis über 49 Züge pro Stunde erbracht. Der «Digitale Knoten Stuttgart» soll die Kapazität weiter erhöhen. © Deutsche Bahn
Ausbau der Gäubahn
Schweizer Bahnreisende werden von der Modernisierung des Bahnknotenpunkts ebenfalls profitieren. Ihr Blick richtet sich hautsächlich auf den geplanten Ausbau der Gäubahn, welcher das Projekt Stuttgart 21 mittelfristig ergänzen soll. Heute verkehrt die Gäubahn auf der Strecke Schaffhausen-Singen-Tuttlingen-Rottweil-Horb-Böblingen nach Stuttgart.
Neu soll der letzte Abschnitt von Böblingen nach Stuttgart Hauptbahnhof über den (noch zu bauenden) Pfaffensteigtunnel und den Flughafen Stuttgart führen. Die Reisezeit Zürich-Stuttgart (heute 3 Stunden 6 Minuten) wird durch diese und weitere Massnahmen um 15 Minuten verkürzt. Der Pfaffensteigtunnel wird nach aktueller Planung ab 2026 gebaut und 2032 fertiggestellt.
Wermutstropfen für Reisende aus der Schweiz: Ab Frühjahr 2026 werden InterCity-Züge aus Zürich nicht mehr bis Stuttgart Hauptbahnhof verkehren, sondern wenige Kilometer vorher am Bahnhof Stuttgart-Vaihingen enden. Die Fahrgäste müssen dort umsteigen, um dann – beispielsweise mit der S-Bahn – ins Stuttgarter Stadtzentrum zu gelangen.
Grund für den zusätzlichen Umstieg: Die Gleise der Gäubahn beim Stuttgarter Hauptbahnhof müssen einer neuen S-Bahn-Trasse weichen. Erst mit Fertigstellung des Pfaffensteigtunnels sollen Züge aus Zürich wieder direkt bis Stuttgart Hauptbahnhof verkehren.

Der Kernbereich des Digitalen Knotens Stuttgart (orange) soll 2026 in Betrieb gehen, die übrigen Strecken (türkis) bis in die 2030er Jahre – Finanzierung vorausgesetzt. © Deutsche Bahn
Digitaler Knoten Stuttgart
Bahnexperten blicken mit Interesse nach Stuttgart, weil dort ein grosser Bahnknoten durchgehend mit moderner Zugsicherungstechnik vom Typ ETCS-Level 2 ausgerüstet wird. Einbezogen in das Pilotprojekt werden nicht nur Fern- und Regionalzüge, sondern auch Güterzüge und die gesamte Stuttgarter S-Bahn.
In der Schweiz ist ETCS-Level 1 flächendeckend eingeführt, und ETCS-Level 2 ist auf Strecken wie Mattstetten-Rothrist sowie in den beiden Alpenbasistunnel in Betrieb und auf weiteren Strecken in Planung. Trotzdem ist der «Digitale Knoten Stuttgart» aus Schweizer Sicht ein Leuchtturmprojekt, denn ein Bahnknoten mit ETCS-Level 2 existiert hier bisher nicht. «Das ist das Modernste, was es derzeit gibt. Wir schauen wirklich gespannt nach Stuttgart», sagte der frühere Direktor des Bundesamts für Verkehr, Peter Füglistaler, 2023 in einem Interview.
ETCS-Level 2 ermöglicht den Verzicht auf Signalanlagen entlang der Gleise. Stattdessen beziehen Lokführer alle relevanten Informationen von einem Display in der Fahrerkabine. ETCS-Level 2 schafft die Voraussetzung, dass Züge dichter hintereinander und mit höherer Geschwindigkeit fahren können.
«Wir haben unterdessen schon fast einen Tourismus von Bahnexperten, die nach Stuttgart kommen, um sich zu informieren», sagt Peter Reinhart, Digitalisierungsexperte der Deutschen Bahn und einer der Väter des Digitalen Knoten Stuttgart. «Im Gegenzug lernen wir sehr viel von der Schweiz, wo ETCS schon länger im Einsatz ist und viele Erfahrungen vorhanden sind, die zeigen, dass man Digitalisierung richtig umsetzen muss, damit sie der Bahn tatsächlich Vorteile bringt.»

Dank Stuttgart 21 ist der Stuttgarter Flughafen künftig ab Hauptbahnhof in sechs Minuten erreichbar. Der Flughafen-Bahnhof ist auch Ausgangspunkt des geplanten Pfaffensteigtunnels, der in Richtung Böblingen/Sindelfingen führen wird. © Deutsche Bahn
Halbautomatischer Fahrbetrieb
Der Digitale Knoten Stuttgart startet im Herbst dieses Jahres mit einem Probebetrieb ohne Fahrgäste. Ab Frühling 2026 geht der Kernknoten in der Agglomeration Stuttgart schrittweise in Betrieb. Die Ausweitung auf die gesamten Region Stuttgart wird bis in die 2030er Jahre umgesetzt, sofern die entsprechenden Gelder zur Verfügung stehen.
Für den Digitalen Knoten müssen auf 500 Streckenkilometern Eurobalisen – elektronische Kilometersteine – verlegt werden, mehr als 500 Triebzüge für ETCS aus- und umgerüstet werden. Der Datentransfer wird über eine Funkblockzentrale (engl. Radio Block Centre/RBC) abgewickelt. Dieses zentrale IT-System überwacht den Zugverkehr per Funk und erteilt die Fahrtfreigaben.
ETCS-Level 2 bildet die Grundlage für den automatischen Fahrbetrieb (engl. Automatic Train Operation/ATO). In Stuttgart wird Stufe 2 (Grad of Automation/GoA 2) umgesetzt: Der Lokführer ist noch an Bord, aber es ist der Computer, der den Zug in aller Regel beschleunigt und bremst.
Auch in diesem Bereich profitieren die Schweiz und Deutschland vom gegenseitigen Erfahrungsaustausch. Bei der Schweizerischen Südostbahn (SOB) geht ATO GoA 2 im Sommer 2025 unter dem Namen AFAS zwischen Biberbrugg und Arth-Goldau in einen einjährigen kommerziellen Testbetrieb. Bei der SBB ist die Technologie in der Evaluation.

Vereinfachte Darstellung von ETCS (European Train Control System) Level 2. © Deutsche Bahn
Schweizer Industrie informiert sich vor Ort
In den ersten Junitagen veranstaltete Swissrail, der Branchenverband der Schweizer Bahn- und Mobilitätsindustrie, eine Informationsreise nach Stuttgart. Die 160 Swissrail-Mitglieder exportieren einen massgeblichen Teil ihrer Produkte und Dienstleistungen ins Ausland, Deutschland ist der wichtigste Exportmarkt. «Im Zentrum unserer Reise standen nicht Businessopportunitäten, vielmehr wollen wir von den Erfahrungen lernen, wie dieses komplexe deutsche Bahnprojekt umgesetzt wird», sagt Andreas Haas, Managing Direktor bei Swissrail.
Das Augenmerk der Schweizer Unternehmen lag auf der Umsetzung der Signal- und Sicherungstechnik im Rahmen von ETCS-Level 2 und auf dem halbautomatischen Fahrbetrieb. Diskutiert wurden ferner die Realisierung des Infrastrukturbaus und dessen Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit und Fragen des Betriebs.
Nach Auskunft von Andreas Haas haben Schweizer Firmen in verschiedenen Bereichen zu Stuttgart 21 beigetragen, etwa mit Sicherungs- und Automatisierungstechnik, mit Rollmaterial, aber auch mit Planungs- und Ingenieurdienstleistungen. «Dank den Erfahrungen aus dem neuen Bahnknoten in Stuttgart können sie ihr Knowhow weiter skalieren», betont Andreas Haas.