06. 11. 2025

PRIX LITRA 2025: Algorithmus unterstützt Netzplanung

Die Planung des künftigen Bahnangebots ist eine komplexe Aufgabe mit zahlreichen Einflussfaktoren und erheblichen Ungewissheiten. Silvano Fuchs hat im Rahmen seiner Masterarbeit an der ETH Zürich ein Software-Werkzeug entwickelt, das Planerinnen und Planern in einer frühen Phase Vorschläge für mögliche Erweiterungen des Angebots und der Infrastruktur macht. Die Arbeit wurde mit dem Prix LITRA 2025 ausgezeichnet.

Können algorithmusbasierte Tools die Angebotsgestaltung im öV verbessern? Mit dieser Frage beschäftigt sich Silvano Fuchs in seiner Masterarbeit. © LITRA

Von Benedikt Vogel, freischaffender Autor

Verkehrsinfrastruktur braucht Zeit. Von der ersten Idee bis zur Inbetriebnahme einer neuen Bahnstrecke oder eines Tunnels können heute 25 Jahre und mehr vergehen. Infrastrukturbauten und Angebotserweiterungen unterscheiden sich im Planungshorizont: Während langfristige Ausbauprojekte wie die Erweiterung des Knotens Basel erst diskutiert werden, sind die im Ausbauschritt 2035 (AS 2035) definierten Projekte deutlich konkreter: Sie werden gegenwärtig im Projekt "Verkehr '45" überprüft und priorisiert.

Mögliche Ausbauschritte sind beispielsweise der Zimmerberg-Basistunnel und die Direktverbindung Neuchâtel-La Chaux-de-Fonds, aber auch Kapazitätserweiterungen durch Einführung von neuen Halbstunden- oder sogar Viertelstundentakten auf Fernverkehrsstrecken.

Grafik 1: Die Bahnverbindung zwischen Dübendorf und Hinwil steht im Zentrum der Arbeit von Silvano Fuchs (Untersuchungsperimeter rot gestrichelt). © Silvano Fuchs

Blick in die ferne Zukunft

Langfristige Planungen sind komplex und mit grossen Unsicherheiten behaftet. Wer hätte im Jahr 1950 vorausgesehen, dass 75 Jahre später die NEAT, die Neubaustrecke Mattstetten-Rothrist oder der Tiefbahnhof Zürich in Betrieb sein würden?

Dieselben Unsicherheiten haben Planerinnen und Planer, die heute den Blick auf das Jahr 2100 richten. Es scheint fast unmöglich, auf diese lange Sicht Einflussfaktoren wie Verkehrsverhalten, Bevölkerungsentwicklung, verfügbare Finanzmittel oder politische Präferenzen vorauszusehen.

Langfristige Planungen auf der Grundlage von Prognosedaten zu unterstützten – das ist das Ziel einer Masterarbeit, die Silvano Fuchs im Juli dieses Jahres am Institut für Bau- und Infrastrukturmanagement der ETH Zürich (Lehrstuhl für Infrastrukturmanagement von Prof. Bryan Adey) erfolgreich abgeschlossen hat.

Im Zentrum der Arbeit stand die Entwicklung eines Softwaretools, das mögliche Ausbauvarianten des Bahnnetzes vorschlägt und nach ihrer Nützlichkeit bewertet. Die Algorithmen verwenden die Programmiersprache Python. Silvano Fuchs hat auf der Grundlage von Vorgängerarbeiten einen Prototypen entwickelt.

Grafik 2: Der von Silvano Fuchs entwickelte Algorithmus hat im und am Rand des Untersuchungsperimeters verschiedene Relationen mit fehlender Direktverbindung identifiziert (rot gestrichelt). © Silvano Fuchs

Ausbauoptionen suchen und dann bewerten

Für seine Arbeit wählte Silvano Fuchs exemplarisch einen Planungsperimeter entlang der Bahnstrecke Dübendorf – Hinwil im Kanton Zürich (vgl. Grafik 01). An diesem Fallbeispiel lässt sich anschaulich darstellen, wie das Planungstool eingesetzt wird: In einem ersten Schritt sucht der Algorithmus nach möglichen Ausbauoptionen für das Schienennetz, wobei die Wirtschaftlichkeit in dieser Phase noch keine Rolle spielt.

Konkret hat das Tool ermittelt, zwischen welchen Bahnhöfen im Planungsperimeter keine Direktverbindungen bestehen (vgl. Grafik 02). Dies ist zum Beispiel zwischen Kempten und Bubikon der Fall, wo die Fahrgäste in Wetzikon umsteigen müssen, oder zwischen Illnau und Kempthal, wo die Fahrgäste in Effretikon umsteigen müssen.

Grafik 3: Die rote Säule zeigt den zusätzlichen Nutzen für den Zeitraum von 2050 bis 2100, den das Tool für die Direktverbindung zwischen Kemptthal und Illnau berechnet – als Durchschnitt der 100 berechneten Zukunftsszenarien. Um den Nutzen zu quantifizieren, wird jeder Reisezeitersparnis ein Geldbetrag zugewiesen. Die blauen Säulen unterhalb zeigen für die jeweilige neue Direktverbindung und denselben 50 Jahre-Zeitraum die diskontierten Bau-, Unterhalts- und Betriebskosten. Die roten Pfeile weisen auf erforderliche Neubauten (Verbindungskurven). © Silvano Fuchs

In einem zweiten Schritt wurden diese und viele weitere mögliche Direktverbindungen mit einer automatisierten Kosten-Nutzen-Analyse bewertet: Hierzu berechnet das Tool für jede Ausbauoption die Kosten für Bau, Wartung und Betrieb, aber auch den Nutzen wie beispielsweise zusätzliche Bahnpassagiere und Reisezeitersparnis.

Um den potenziellen Nutzen jeder Ausbauoption beziffern zu können, legt Silvano Fuchs 100 mögliche Szenarien für die künftige Entwicklung des Bevölkerungswachstums, des Modal Splits und der täglichen Reisezeiten bis ins Jahr 2100 zugrunde. Für jedes der 100 Szenarien errechnet der Computer den potenziellen Nutzen jeder Ausbauoption (vgl. Grafik 03).

Grafik 4: Das Tool schlägt im untersuchten Perimeter drei Direktverbindungen vor: Pfäffikon (ZH) – Illnau – Winterthur mit einer Verbindungskurve bei Effretikon (rot), Uster – Dübendorf – Winterthur mit einer Verbindungskurve bei Dübendorf (grün) sowie Pfäffikon (ZH) – Rapperswil (blau). © Silvano Fuchs

Direktverbindungen nach Winterthur

«Am Ende dieses Prozesses sagt das Tool, welche Ausbauoptionen den grössten Nutzen bei vertretbaren Kosten erwarten lassen», erklärt Silvano Fuchs. «Diese priorisierten Ausbauvorschläge können von Planerinnen und Planern in einer frühen Phase in die Netzplanung einbezogen und vertieft geprüft werden.»

Im untersuchten Fallbeispiel fand das Tool unter 33 geprüften Ausbauvarianten drei mit besonders hohem Potenzial (vgl. Grafik 04). Die ersten beiden Varianten sind Direktverbindungen nach Winterthur, dies entweder ab Pfäffikon (ZH) – mit einer Neubauverbindungskurve bei Effretikon – oder ab Uster – mit einer Neubauverbindungskurve bei Dübendorf.

Dazu schreibt Silvano Fuchs in seiner Masterarbeit: «Die Bewertung hat gezeigt, dass bereits unter heutigen Bedingungen rund 6’700 Fahrten täglich über diese Verbindung erfolgen würden. In Zukunft dürfte diese Zahl durch steigende Nachfrage und einen veränderten Modal-Split zugunsten des öV weiter zunehmen.»

Die dritte vorgeschlagene Direktverbindung würde von Pfäffikon (ZH) nach Rapperswil führen. Auf der Strecke liesse sich eine S-Bahn-Linie realisieren, ohne dass die Infrastruktur ausgebaut werden müsste. Würden die Ausbauvarianten Winterthur – Pfäffikon (ZH) und Pfäffikon (ZH) – Rapperswil kombiniert, könnte die Reisezeit zwischen den Agglomerationen Winterthur und Obersee, die beide von einem starken Wachstum geprägt sind, von heute 50 Minuten (mit zweimaligem Umsteigen) auf 40 Minuten (ohne Umsteigen) reduziert werden.

Wie können Ausbauvarianten algorithmisch generiert und bewertet werden, um robuste Entscheidungen bezüglich zukünftiger Bahn-Projekte zu ermöglichen? Silvano Fuchs präsentiert im Rahmen der Preisverleihung des Prix LITRA 2025 seine Ergebnisse. © LITRA

Weiterentwickeln für die praktische Anwendung

Silvano Fuchs betont, dass diese Vorschläge die Einsatztauglichkeit seines Tools bestätigt haben. Die Vorschläge dürften aber nicht als Umsetzungsempfehlungen verstanden werden. Vielmehr handele es sich um vielversprechende Ausbauoptionen, die noch einer genaueren Prüfung unterzogen werden müssten.

Das Tool kann für jedes beliebige Bahnnetz eingesetzt werden, wenn die erforderlichen Daten zur Verfügung stehen. Bis das möglich ist, sind laut Silvano Fuchs aber noch methodische Verbesserungen bei der Generierung und Bewertung von Ausbauvarianten nötig. So würden wichtige Parameter wie Fahrplanverbesserungen, Rollmaterial oder Streckenkapazitäten vom Prototypen aktuell noch nicht berücksichtigt.

Auch müssten in die Kosten-Nutzen-Bewertung weitere Aspekte wie Landverbrauch oder Lärm einbezogen werden. Um den Einsatz in der Planungspraxis zu ermöglichen, muss zudem ein grafisches Benutzerinterface geschaffen werden, das die Bedienungsfreundlichkeit sicherstellt.

Silvano Fuchs

«Ich war schon als Kind von der Eisenbahn begeistert», erzählt Silvano Fuchs, der in Neuhausen am Rheinfall aufwuchs und heute in Zürich lebt. Diese Begeisterung dürfte ihn mit dazu bewegt haben, an der ETH Zürich den Studiengang «Raumentwicklung und Infrastruktursysteme» zu belegen. Im Frühsommer 2025 schloss der 25-jährige das Studium mit der Masterarbeit ab, die nun mit dem Prix LITRA 2025 ausgezeichnet wurde.

«Die Auszeichnung freut mich auch deshalb, weil sie einen Beitrag leistet, dass meine Studie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird und nicht einfach in der Schublade verschwindet», sagt Silvano Fuchs. Praktische Relevanz hat die Arbeit auch für ihn selbst: Unterdessen arbeitet Silvano Fuchs beim Verkehrsverbund Luzern in der Angebotsplanung für Busse. Hier kann er sein im Studium erworbenes Wissen gut nutzen.

Fuchs, S. (2025), Algorithmusbasierte Entscheidungsunterstützung für die Planung des SBB-Bahnnetzes bis 2100, Masterarbeit, ETH Zürich, Zürich.

Der Prix LITRA 2025: LITRA-Präsident Martin Candinas, Ann Hesse, Silvano Fuchs, Julien Nippel, Mélina Errichelli und Bundesrat Guy Parmelin. © LITRA

Prix LITRA 2025: Ob Personen- oder Güterverkehr – der öV-Nachwuchs bewegt die Schweizer Mobilität

Im Rahmen einer feierlichen Preisverleihung der LITRA in Bern überreichte Bundesrat Guy Parmelin den diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträgern des Prix LITRA den Pokal und würdigte ihr grosses Engagement für die Mobilität in der Schweiz.

Ausgezeichnet wurden Silvano Fuchs, Mélina Errichelli, Julien Nippel und Ann Hesse.