24. 10. 2024

Prix LITRA 2024: öV-Nutzung ist auch Gewohnheitssache

Der Mensch pflegt seine Gewohnheiten – das gilt bis zu einem bestimmten Grad auch für die Wahl der Verkehrsmittel. Eine Masterarbeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) hat den Einfluss von Gewohnheiten untersucht und daraus Vorschläge abgeleitet, wie der Umstieg vom Auto auf den öffentlichen Verkehr gefördert werden kann. Die Masterarbeit wurde mit dem Prix LITRA 2024 ausgezeichnet.

Preisträger Zachary Hansen ging in seiner Masterarbeit an der EPFL der Frage nach, inwiefern individuelle Gewohnheiten dahingehend genutzt werden können, um die Verkehrsverlagerung zu fördern. © LITRA

Von Benedikt Vogel, freischaffender Autor

Das Verkehrsunternehmen von Lausanne – die Transports publics de la région lausannoise (kurz: TL) – befördert täglich rund 350’000 Fahrgäste in der Agglomeration der Waadtländer Metropole. Um den Menschen am Ufer des Genfersees einen attraktiven öffentlichen Verkehr anzubieten, verkehren Trolley- und Autobusse auf 44 Linien. Hinzukommen zwei Metros und die Lausanne-Echallens-Bercher-Bahn (LEB), die die nördlichen Vororte von Lausanne erschliesst. Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden, wird das Netz weiter ausgebaut. Aktuell entsteht eine Tramlinie vom Lausanner Stadtzentrum nach Villars-Ste-Croix im Nordwesten der Stadt.

«Die Attraktivität des Angebots ist der wichtigste Hebel, damit die Bevölkerung zur Fortbewegung so oft wie möglich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt», sagt TL-Sprecher Martial Messeiller. Aus dem Grund haben die TL ihr Angebot auch in jüngster Zeit erweitert. Der Takt auf den Bus-Hauptlinien wurde erhöht und das Abendangebot der Metros an Sommer-Wochenenden ausgebaut. Ebenfalls der Förderung des öV dienen zum Beispiel Werbeaktionen für Jugendliche, Studenten oder Senioren und günstige Angebote des Tarifverbunds Mobilis. «Unsere Bemühungen zeigen grossen Erfolg, denn die Nachfrage explodiert, insbesondere bei der Freizeitmobilität», sagt Martial Messeiller.

Schnell und günstig ist gut, aber…

Ein gut ausgebauter öffentlicher Verkehr ist wichtig für dessen Attraktivität. Aber eine gute Verfügbarkeit führt noch nicht dazu, dass alle Menschen den öV tatsächlich nutzen. «Auch wenn der Bus oder die S-Bahn für einen Menschen die schnellste und günstigste Verkehrsverbindung darstellt, heisst das noch nicht, dass dieser Mensch tatsächlich den Bus oder sie S-Bahn wählt, denn Menschen entscheiden nicht immer nach rationalen Kriterien wie Zeit und Geld», sagt Zachary Hansen, der Mitte 2024 an der EPFL einen Master in Bauingenieurwesen (Schwerpunkt Transport und Mobilität) abschloss.

In der Masterarbeit, die von Professor Vincent Kaufmann betreut wurde, fragte der Wissenschaftler nach den Gründen, warum Menschen im Alltag ein bestimmtes Verkehrsmittel wählen. Zachary Hansen ist überzeugt, dass bei dieser Wahl neben rationalen Aspekten wie Fahrzeit, Preis und Komfort auch Gewohnheiten eine wichtige Rolle spielen. Er plädiert dafür, dass Planer von öV-Angeboten diese Gewohnheiten in ihre Überlegungen mit einbeziehen, wenn sie die Menschen zu einer verstärkten Nutzung des öffentlichen Verkehrs bewegen wollen.

Grafische Darstellung der Strecken, die die 767 in der Arbeit repräsentierten Personen in der Agglomeration von Lausanne während eines Vier-Wochen-Zeitraums zurückgelegt haben. Erfasst wurden öffentliche oder private Verkehrsmittel, aber auch Wege zu Fuss. © Hansen

Tracking-Daten von über 700 Personen

Die Arbeit des Masterstudenten bezieht sich auf die Region Lausanne –Morges mit 26 Gemeinden und knapp 300’000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die Untersuchung nutzt Reisedaten von 767 Personen aus dem «Panel Lémanique» der EPFL, die im Frühsommer 2023 mittels GPS-Tracking aufgezeichnet und durch Befragungen ergänzt wurden. Die Daten dokumentieren, welche Bewegungen die Personen ausser Haus zu Fuss oder mit einem Verkehrsmittel während eines Vier-Wochen-Zeitraums unternommen haben. So kamen insgesamt gut 200’000 Streckenabschnitte zusammen, die die 767 getrackten Personen zu Fuss, per Velo, Auto oder einem öffentlichen Verkehrsmittel zurücklegten. Erhoben wurde auch, zu welchem Zweck die jeweiligen Fahrten dienten, also beispielsweise für Arbeit/Schule, Einkauf oder Freizeit.

Aus den Daten hat der EPFL-Student durch Clusteranalyse vier Personengruppen mit unterschiedlichen Gewohnheitsmustern abgeleitet. Vereinfacht ausgedrückt sind das: die Auto-Nutzer (17 Prozent), die öV-Nutzer (20 Prozent) und eine dritte Gruppe, die je nach Situation unterschiedliche Verkehrsmittel nutzt und dabei auch gern auf das Velo steigt (16 Prozent). Auch die vierte Gruppe (47 Prozent) ist multimodal unterwegs, wobei diese Menschen gelegentlich das Auto durch das E-Bike oder einen E-Scooter ersetzen. Die vier Personengruppen sind in verschiedenen Gebieten unterschiedlich stark vertreten, die Autofahrer beispielsweise an Orten mit Autobahnanbindung, aber auch in städtischen Vororten wie Renens. Die Nutzerinnen und Nutzer des öV dagegen sind vorwiegend im Lausanner Stadtzentrum und in der Umgebung von EPFL und Universität zu Hause. Die beiden Gruppen, die regelmässig auf mehrere Bewegungsarten abstellen, sind geografisch ziemlich breit verteilt.

Im Stadtzentrum von Lausanne sind öV-Nutzer (Cluster 2; orange) stark vertreten, während Auto-Nutzer (Cluster 1; grün) in den Subzentren grosses Gewicht haben. Dazwischen gibt es Gebiete mit einer starken Vertretung von Personen, die verschiedene Verkehrsmittel nutzen und eine Affinität zum Velo haben (Cluster 3; violett). Nicht auf der Grafik dargestellt sind die Vertreter von Cluster 4: Sie verteilen sich auf den ganzen Untersuchungsperimeter und sind in allen Gebieten die am stärksten vertretene Clustergruppe. © Hansen

Nachbarn als gutes Beispiel

Zachary Hansen leitet aus seinen Daten Ideen ab, wie Menschen dazu bewegt werden könnten, öfter den öffentlichen Verkehr anstelle des Autos zu nutzen. Ein Ansatz geht in die Richtung, Menschen nicht flächendeckend, sondern gezielt in jenen Gebieten anzusprechen, in denen eine hohe Umsteigebereitschaft vorhanden ist. Ein solches Gebiet vermutet Zachary Hansen zwischen den Lausanner Vororten Renens und Prilly: «Die Menschen in diesem Korridor haben keine nennenswerte Gewohnheit, mit dem Auto zu fahren, und doch sind sie überproportional für die mit dem Auto zurückgelegten Kilometer verantwortlich. Eine gezielte Förderung des öffentlichen Verkehrs gegenüber dem Auto könnte in dieser Region erhebliche Auswirkungen haben, um einerseits zu verhindern, dass diese aufgeschlossenen Personen eine stärkere Gewöhnung an das Auto entwickeln, und sie andererseits dazu zu bewegen, andere Verkehrsmittel zu nutzen.»

Der Grund, dass Zachary Hansen seine Hoffnungen gerade in diesen Korridor setzt, liegt daran, dass hier viele öV-Nutzer leben, während nördlich und südlich davon auto-affine Menschen dominieren. Im betreffenden Korridor, so Hansen, liessen sich Bewohnerinnen und Bewohner durch öffentliche Kampagnen oder das gute Beispiel der Nachbarn für den öV gewinnen, während das im Norden und Süden wegen der verfestigten Gewohnheiten weniger aussichtsreich wäre.

Flon ist ein Hauptknotenpunkt des öV in der Stadt Lausanne. Im Bild: die Haltestelle der Lausanne-Echallens-Bercher-Bahn (LEB). © Transports publics de la région lausannoise

Gelegenheitsfenster nutzen

Ein zweiter Ansatz, Menschen für den öffentlichen Verkehr zu gewinnen, besteht in der Nutzung von Gelegenheitsfenstern. Ein solches ist gegeben, wenn sich die Lebensumstände von Menschen ändern, etwa durch eine neue Arbeitsstelle, Umzug oder Pensionierung. In solchen Situationen, so Hansen, seien Menschen eher bereit, alte Gewohnheiten aufzugeben und neue anzunehmen: «Vor diesem Hintergrund kann eine wirksame Planung des Verkehrsmittelwechsels vorgenommen werden, um diese sich ändernden Lebensumstände zu nutzen und Personen anzusprechen, die kurz vor einer grösseren Veränderung ihrer Lebensumstände stehen.»

Zachary Hansens soziologische Masterarbeit ist praxisnah angelegt. Für die Daten und deren Analyse wurde er unterstützt vom Service de la Mobilité et Planification des Infrastructures (MAP) der Stadt Lausanne, der Direction générale de la mobilité et des routes (DGMR) des Kantons Waadt, dem Transportunternehmen TL und dem Labor für Stadtsozioologie (Laboratory of Urban Sociology/LaSUR) an der EPFL. Gewissermassen als Gegenleistung erhalten Verkehrsplaner und Transportunternehmen von Zachary Hansen nun Anregungen, wie sie das öV-Angebot nicht nur ausbauen, sondern auch so gestalten können, dass bei bestehenden und neuen Nutzerinnen und Nutzern Gewohnheiten entstehen, die sie längerfristig an den öV binden.


Zachary Hansen

Zachary Hansen wuchs im US-amerikanischen Bundesstaat Arizona auf. Dort schloss er ein Bachelorstudium als Bauingenieur ab. Für den Master wechselte der Sohn eines ausgebildeten Historikers und einer Kommunikationsexpertin 2022 an die École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL). Dort studierte er Bauingenieurwesen und widmete sich zuletzt dem öffentlichen Verkehr. «Ich bin fasziniert vom Schweizer öV, er ist viel besser ausgebaut ist als in den USA», sagt Zachary Hansen. «Ich freue mich, dass ich mit meiner Masterarbeit jetzt einen Input geben kann für all jene, die sich professionell mit dem öV befassen.» Der 24-Jährige ist seit Herbst 2024 in Olten zu Hause und arbeitet als Verkehrsplaner in einem Berner Ingenieurbüro.

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