31. 10. 2024

Prix LITRA 2024: Ein guter Fahrplan lässt Europa schrumpfen

Mit besseren Fahrplänen für internationale Bahnverbindungen liessen sich die Reisezeiten um einen Fünftel und mehr verkürzen, und das ohne kostspielige Investitionen in Neubaustrecken. Das ist die Hauptaussage einer Bachelorarbeit der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Die Bachelorarbeit wurde mit dem diesjährigen Prix LITRA ausgezeichnet.

Pokalübergabe mal anders: Preisträger Matthias García zu Besuch im Bundeshaus, mit LITRA-Präsident Martin Candinas und Deborah Dudle, Verantwortliche Prix LITRA. © LITRA

Von Benedikt Vogel, freischaffender Autor

Für Matthias García war es Spass und Bildungsreise zugleich: Im Sommer 2024 fuhr der 22-jährige Schweizer aus seiner Heimat über die Türkei, Usbekistan, Kirgisistan nach China, und von dort über Thailand und Vietnam weiter nach Japan. Den grössten Teil der Strecke absolvierte er mit Zug, Bus und Fähre.

Wenn er in einer Metropole Halt machte, gönnte er sich das Vergnügen, stundenlang mit der U-Bahn durch die Stadt zu bummeln. Vier Monate dauerte die Reise, 80000 Kilometer legte der neugierige Student zurück. Er lernte unterwegs mehr Verkehrsmittel kennen als andere in ihrem ganzen Leben.

Alternative zum Flugverkehr

Vor seiner grossen öV-Reise hatte Matthias García an der ETH Zürich seine Bachelorarbeit abgeschlossen. Darin ging es um die internationalen Zugverbindungen in Europa und die Frage, wie die Bahn eine umweltfreundliche Alternative zu Kurz- und Mittelstreckenflügen werden könnte. Dass dies heute erst ansatzweise der Fall ist, liegt auch an den Unzulänglichkeiten der Fahrpläne. So führen Verbindungsbrüche nicht selten zu zermürbenden Wartezeiten an Umsteigebahnhöfen.

Wie schlimm das sein kann, belegt der Forscher am Beispiel der Verbindung Berlin – Tallinn: Die Bahnfahrt dauert heute fast 52 Stunden, darin enthalten 19 Stunden Umsteigezeit in Warschau, Kaunas und Riga. Wer in der Gegenrichtung fährt, ist sogar 73 Stunden unterwegs, davon 41 Stunden Wartezeit.

Dass die Bahn schneller werden muss, gerade auf langen Strecken, ist keine neue Erkenntnis. In der Regel wird dann auf die Neubaustrecken verwiesen, die auf dem Kontinent geplant sind und teilweise auch schon umgesetzt werden. Matthias García sieht den Nutzen dieser aufwändigen Infrastrukturprojekte, er möchte ihre Effektivität aber durch eine Optimierung der internationalen Fahrpläne unterstützen. In besseren Fahrplänen steckt tatsächlich ein erhebliches Verbesserungspotenzial.

Mit ihnen liessen sich die Fahrzeiten im Durchschnitt um mehr als einen Fünftel (21 Prozent) reduzieren, wie Matthias García in seiner Bachelorarbeit errechnet hat. Fahrplanoptimierungen bringen somit im Durchschnitt den gleichen Zeitgewinn wie der Bau aller neuen Trassen, die bis 2050 geplant sind (22 Prozent Zeitersparnis). Die Untersuchung ist im Studiengang «Raumbezogene Ingenieurwissenschaften» am Lehrstuhl von Professor Dr. Francesco Corman (Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme) entstanden.

Zehn Bahnkorridore im Blick

Der ETH-Student hat als Grundlage für seine Bachelorarbeit zunächst einen umfangreichen Datenpool zusammengestellt: Er bestimmte zwischen Nordkap und Sizilien 30’000 Bahnhöfe und suchte in bestehenden Fahrplänen nach den schnellsten Verbindungen zwischen diesen Haltepunkten. Ein spezielles Rechenwerkzeug (Dijksta-Algorithmus) erlaubte ihm, für jede beliebige Bahnverbindung Streckenlänge und schnellste Reisezeit zu berechnen.

Im Zentrum der Arbeit standen zehn transeuropäische Bahnkorridore. Sie orientieren sich an den Hauptkorridoren des Trans-European Transport Network (TEN-T), das die Europäische Kommission vor Jahren definiert hat. Für jeden Streckenabschnitt der zehn Bahnkorridore errechnete der Wissenschaftler nun die Reisezeit, und dies für drei Szenarien: Erstens für die Situation mit den aktuell geltenden Fahrplänen. Zweitens für das Jahr 2050, wenn die insgesamt rund 80 Neubaustrecken, die sich aktuell auf den zehn Korridoren in Planung befinden, realisiert sind. Und drittens für den Fall, dass die Korridore auf den heutigen Strecken, aber mit international optimal abgestimmten Fahrplänen befahren würden.

Diese zehn Bahnkorridore – angelehnt an die Hauptkorridore des Trans-European Transport Network (TEN-T) – standen im Zentrum der Untersuchung von Matthias García. Für jeden der Korridore sind bis 2050 mehrere Neubaustrecken geplant. © García / Pexels

Fahrplan unterschiedlich wichtig

Aus diesem Vergleich ging hervor, dass die Fahrplanoptimierung durchschnittlich annähernd die gleiche Zeitersparnis bringt wie die Infrastrukturmassnahmen. Zwischen den zehn Bahnkorridoren gibt es allerdings erhebliche Unterschiede. So ist bei Korridor 4 vom südspanischen Cádiz ins ukrainische Tschop die Fahrplanoptimierung (25 Prozent Zeitersparnis) gegenüber dem Infrastrukturausbau (11 Prozent Zeitersparnis) klar im Vorteil.

Der Grund: Diese Verbindung hat derzeit einen übermässig ineffizienten Fahrplan, zudem sind nur wenige Hochgeschwindigkeitsprojekte entlang des Korridors geplant. Besonders wirksam sind Fahrplanoptimierungen auch auf Korridor 7 (von Amsterdam über das Rhonetal ins italienische Ventimiglia) und Korridor 6 (Groningen/Niederlande – Thurso/Schottland).

Dem stehen Bahnkorridore gegenüber, die von den neuen Strecken stärker profitieren als von Fahrplanoptimierungen. Das gilt in besonderem Mass für die Korridore 9 (Paris – Lissabon), 3 (Paris – Istanbul) und 5 (Luleå/Nordschweden – Ostende/Belgien). Auf der Strecke von der französischen in die portugiesische Hauptstadt kann die Reisezeit mit den geplanten neuen Schienenwegen mehr als halbiert werden.

Der massive Zeitgewinn erklärt sich durch den Umstand, dass die Züge auf der neuen Strecke mit hohem Tempo und praktisch ohne Zwischenhalt verkehren werden. Zum Vergleich: Eine Fahrplanoptimierung auf den aktuellen Gleisen würde die Reisezeit um 28 Prozent verkürzen.

Der Autor der Bachelorarbeit weist die Zeitgewinne von Fahrplanoptimierung und Neubaustrecken detailliert aus. Dies nicht nur für die Gesamtstrecke der zehn Korridore, sondern auch für die einzelnen Streckenabschnitte. Damit liefert er Anhaltspunkte, an welchen Knotenpunkten mit Fahrplanoptimierungen schnelle Verbesserungen erzielt und low hanging fruits geerntet werden könnten. Das ist um so wichtiger, als punktuelle Probleme sich oft im ganzen Netz propagieren und somit zahlreiche Verbindungen tangieren.

Zeitersparnis auf den zehn Bahnkorridoren durch Neubaustrecken (3. Spalte) bzw. durch Fahrplanoptimierungen (4. Spalte). Die eine Hälfte der Korridore profitiert mehr von Fahrplanoptimierungen, die andere Hälfte mehr von Neubaustrecken. © García

BAV wünscht sich auch Verbesserungen

Dass internationale Bahnverbindungen heute noch zu wünschen übriglassen, weiss auch das Bundesamt für Verkehr (BAV). Die Fachbehörde sieht optimierte grenzübergreifende Fahrpläne als eine Massnahme in einem Bündel von nötigen Verbesserungen, wie BAV-Sprecher Michael Müller ausführt: «In erster Linie müssen die nötigen Infrastrukturen zur Verfügung stehen. Dann müssen die Zugsicherungs- und Leitungssysteme über alle Grenzen hinweg kompatibel sein.

Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit müssen garantiert sein. Weiter braucht es entsprechende Billettpreise sowie Systeme und Regeln, mit denen sich solche internationalen Tickets mindestens so einfach buchen lassen wie im Flugverkehr heute. Und schliesslich sind regelmässige, häufige, schnelle und direkte Verbindungen wichtig.»

Zurückhaltend äussert sich das BAV zur Forderung von Matthias García, dem Personenverkehr auf den übergreifenden transeuropäischen Korridoren bei der Planung der nationalen Fahrpläne Vorrang einzuräumen. Das BAV möchte bei der Fahrplan-Erstellung am nationalen Fokus festhalten, «wegen der nationalstaatlichen Struktur Europas und der in erster Linie im Inland generierten Nachfrage», so die Begründung des BAV.

Die Bachelorarbeit stellt potenzielle Zeitgewinne anschaulich mit Karten dar, auf denen alle Orte, die ab einem Ausgangsbahnhof (hier: Zürich) in einer bestimmten Reisezeit erreichbar sind, die gleiche Farbe haben. Links: die aktuelle Situation. Rechts: nach Optimierung der internationalen Fahrpläne. Dank verbesserter Fahrpläne wären neu Städte wie Rom, Nantes, London oder Hannover in sechs Stunden (gelbe Fläche in der Grafik rechts) ab Zürich erreichbar. Die Bahn würde auf den Strecken zu einer guten Alternative zum Flugzeug. © García

Vier Stunden Reisezeit als Zielmarke

Matthias García zeigt mit seiner Bachelorarbeit die Bedeutung guter Fahrpläne im internationalen Bahnverkehr. Sie können neben Neubaustrecken einen wichtigen Beitrag zur Verkürzung von Bahnreisen quer durch Europa leisten. «Wichtige Städte wie Venedig, Florenz, Rom, Marseille, Montpellier, Lille, London, Brüssel, Erfurt und viele andere werden in Zukunft wahrscheinlich eine verstärkte Bahnnachfrage auf Kosten der Auto- und Flugnachfrage verzeichnen», schreibt Matthias García gestützt auf eine Marktanalyse der PTV Group aus dem Jahr 2019.

«Die Nachfrage nach Bahnreisen liesse sich weiter verbessern, wenn die derzeitige Reisezeit auf der Schiene so verkürzt werden könnte, dass sie in die Nähe des traditionell attraktiven Bereichs von vier Stunden Bahnfahrt kommen.»

Während der eigentlichen Preisverleihung des Prix LITRA 2024 weilte Matthias García auf einem Bahn-Research-Trip in Japan. Nach seiner Rückkehr wurde er von Nationalrat und LITRA-Präsident, Martin Candinas, im Bundeshaus empfangen. Neben einer kleinen Pokalübergabe gabt es für den Preisträger auch eine Führung durchs Bundeshaus. © LITRA


Matthias García

Matthias García wuchs in Lima und London auf, bevor er mit acht Jahren in die Schweiz kam. Im Frühjahr 2024 erwarb er an der ETH Zürich den Bachelor im Studiengang «Raumbezogene Ingenieurwissenschaften». Dass seine Bachelorarbeit mit dem Prix LITRA ausgezeichnet wurde, freut Matthias García: «Ich habe eine grosse Leidenschaft für Transportsysteme und insbesondere für internationale Verkehrsverbindungen; die Auszeichnung meiner Abschlussarbeit zeigt mir, dass andere diese Leidenschaft mit mir teilen. Ich wurde unterdessen zu einer Fachtagung eingeladen, um meine Erkenntnisse vor Expertinnen und Experten präsentieren und mit ihnen diskutieren zu können.»

Im Herbst 2024 hat der 22-jährige Nachwuchswissenschaftler an der ETH den Masterstudiengang Raumentwicklung und Infrastruktursysteme begonnen.

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