20. 02. 2020

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20. 02. 2020

Konstruktiv an Dogmen rütteln

Ein Gastbeitrag von Paul Schneeberger und Rolf Martin Bergmaier

Die beiden Prix LITRA-Preisträger Stefan Angliker und Patrick Helg haben sich in ihrer Bachelorarbeit an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) mit einer jüngst politisch aufgebrachten Frage auseinandergesetzt. Sie haben Angebotskonzepte für direkte Personenzüge Basel-Koblenz-Winterthur evaluiert und daraus resultierende Investitionskosten abgeleitet. Zudem haben sie die Entlastungspotenziale ermittelt, die sich dadurch für die Verbindung Basel-Zürich-Winterthur ergeben könnten. Sie machen damit dreierlei deutlich.

Fundierte Entscheidungshilfen

Erstens: Wissenschaftliche Arbeiten müssen sich nicht zwangsläufig mit abstrakten oder theoretischen Fragestellungen auseinandersetzen. Im Gegenteil. Indem sie Themen gewidmet werden, die Gegenstand laufender Diskussionen sind, können sie nicht nur als fachlich fundierte Entscheidungshilfen dienen, sondern auch dazu beitragen, als ehern geltende Dogmen qualifiziert in Frage zu stellen und dadurch einer kritischen Überprüfung auszusetzen. Mit ihrer Arbeit rütteln Stefan Angliker und Patrick Helg am Dogma, dass es kein Potenzial für eine am Knoten Zürich vorbeiführende Bahnverbindung zwischen der Ostschweiz und der Nordwestschweiz gibt.

Sie stellen damit die Einschätzungen von Bund und Kantonen in Frage, die in jüngster Vergangenheit sämtliche in diese Richtung zielenden politischen Vorstösse ablehnend beantwortet haben. Ausgehend von einer Abschätzung des Nachfragepotenzials und basierend auf Abwägung mehrerer möglicher Varianten zur Wiederbelebung der Direktverbindung Basel-Laufenburg-Koblenz-Bülach-Winterthur haben sie die betriebliche Bestvariante eines stündlich verkehrenden Interregio-Zugs auf dieser Strecke ausgearbeitet, der gut in das bestehende Bahnangebot integriert werden kann. Ihre Erkenntnisse sind nun Grundlage für weitere politische Vorstösse in diese Richtung.

Entwicklungspotenziale beachten

Zweitens: Indem Stefan Angliker und Patrick Helg auch die Entwicklungspotenziale des durchfahrenen Raums in ihre Überlegungen einbezogen haben, haben sie eine Komponente berücksichtigt, der sonst bei Angebotskonzepten der Eisenbahn zu wenig Beachtung geschenkt wird. Dabei ist dieser Gesichtspunkt essenziell: So wie eine Bergbahn ohne Bergrestaurant ein Selbstzweck bleibt, muss sich auch eine Eisenbahnlinie in der Fläche selbst genügen, wenn absehbar ist, dass auf absehbare Zeit zu wenig Menschen und Waren da sind, die von ihr zu transportieren wären.

Es ist unbestritten, dass sich angesichts der grossen Herausforderungen und des grossen Investitionsbedarfs in den Stadtregionen heute ein grosser Mitteleinsatz für solchen Selbstzweck-ÖV nicht mehr rechtfertigen lässt. Umgekehrt ist vor einem negativen Entscheid über mögliche Ergänzungen des bestehenden Netzes seriös zu prüfen, ob das „Totschlagargument“ des zu geringen Potenzials und des von den SBB veranschlagten finanziellen Aufwandes in dreistelliger Millionenhöhe für Infrastrukturausbauten gerechtfertigt ist oder nicht. Genau das haben Stefan Angliker und Patrick Helg in ihrer Arbeit getan. Die Gleichung, die sie aufstellen, lautet: Für eine Investition von 20 Millionen Franken könnte einmal pro Stunde und Richtung ein Interregio-Zug zwischen Basel und Winterthur an Zürich vorbei verkehren und Reisezeitverkürzungen um bis zu 73 Prozent mit sich bringen.

Bestehende Infrastrukturen als Leitlinien

Angliker und Helg machen deutlich, wie sich die nur mehr von Güterzügen befahrene Bahnlinie Koblenz-Laufenburg als „halb volles“ und nicht als „halb leeres“ Glas interpretieren lässt. Der Faden, den sie aufgenommen haben, liesse sich noch weiterspinnen, wenn ermittelt würde, welche Potenziale für die Siedlungsentwicklung um die Haltepunkte der von ihnen ausgerollten neuen Bahnverbindung bestehen und wie diese gegebenenfalls weiter erhöht werden könnten.

Der Ansatz der beiden Autoren, zusätzliche Angebots- und Nachfragepotenziale auf bzw. entlang von bestehenden Verkehrsinfrastrukturen auszuloten, ist zukunftsträchtig. Eisenbahnlinien, auf denen Verkehre gebündelt abgewickelt werden, eignen sich in hohem Masse als Leitlinien im eigentlichen Sinne des Wortes für die weitere politisch angestrebte dezentrale Konzentration der Siedlungsentwicklung.

Vorsicht mit Verkehrsmodellen

Drittens: Die Arbeit führt vor Augen, dass Überlegungen zum Nutzen langfristiger Investitionen oft auf Verkehrsmodellen basieren, die den Eventualitäten einer ferneren Zukunft nur unzureichend gerecht werden. Wie die Erfahrung zeigt, sind solche Daten mit Vorsicht zu geniessen. Bei solchen eindimensionalen Nutzenüberlegungen werden insbesondere die verkehrliche Aufwertung der Standortgunst von periphereren Regionen oder die Schaffung von Ausweichstrecken für die zunehmend überlasteten Hauptachsen nicht berücksichtigt. Letzteres betrifft in diesem Fall die Magistralen zwischen Basel, dem Tor zur Schweiz, und dem Mittelland durch den Hauenstein oder über den Bözberg.

Fazit: Stefan Angliker und Patrik Helg ist es gelungen, unvoreingenommene Antworten auf eine aktuelle Frage zu finden, ohne dass sie dabei die Bodenhaftung verloren haben.

Die Autoren

Paul Schneeberger ist Autor des Buchs "Ein Plan für die Bahn - wie die Milliardeninvestitionen in die Schiene mehr bewirken können" (NZZ Libro 2018).

Rolf Martin Bergmaier ist General Manager BINARY Consultants Pty Ltd / Dozent Lehrgang Verkehrssysteme ZHAW.