17. 12. 2024
17. 12. 2024
Gastbeitrag: Die Schiene ist unverzichtbar bei der Umsetzung einer nachhaltigen Verkehrspolitik
Das Reisen mit dem Zug wird in Europa immer beliebter. Gleichzeitig nimmt der Schienenverkehr eine zentrale Rolle in der Erreichung der Klimaziele und der Dekarbonisierung des Verkehrs ein. Ein nachhaltiges Europa ist nur mit der Förderung des Schienenverkehrs möglich. Wie die Zusammenarbeit im europäischen Schienenpersonen- und im Schienengüterverkehr aussehen kann, zeigt der Gastbeitrag von Jean-Pierre Farandou, Präsident und Generaldirektor der SNCF.
Von Jean-Pierre Farandou, Präsident und Generaldirektor der französischen Eisenbahngesellschaft (Société nationale des chemins de fer français, SNCF)
Die Geschichte der Bahn ist untrennbar mit der Geschichte des europäischen Aufbaus verbunden. Die Bahn, seit der industriellen Revolution eine Antriebskraft des Fortschritts, Instrument des Eroberungskurses eines im Zentrum des Globalisierungsprozesses stehenden Europas, von den tragischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts gebeutelt und zugleich Symbol für das Ende des Ersten Weltkrieges, hat sich über die Jahre hinweg als wichtiger Baustein des vereinten Europas weiterentwickelt.
Die Bahn, die gestern beim Aufbau eines vereinten Europas mitwirkte, heute den Herausforderungen der Klimakrise entgegentritt und morgen in einer kohlenstoffarmen Welt bestehen muss, hat in Europa stets eine zentrale Rolle gespielt, und dies wird auch künftig weiter der Fall sein. Ein kohlenstofffreies Europa ist ohne leistungsstarkes Schienennetz, das den EU-Bürgern die Freizügigkeit im Personenverkehr und den Unternehmen den freizügigen Warenverkehr ermöglicht, in der Tat unvorstellbar.
Ein klimaneutraler Verkehrssektor: dank der Verkehrsverlagerung ein erreichbares Ziel
Die grüne Transformation kann erreicht werden, wenn wir alle gemeinsam unseren Beitrag leisten. Ein Viertel der gesamten CO2-Emissionen in der Europäischen Union ist allein dem Verkehrssektor zuzurechnen. Er ist der einzige Sektor, der keinen Rückgang der Emissionen, sondern in drei Jahrzehnten, zwischen 1990 und 2019, einen kontinuierlichen Anstieg der Emissionen um 33 Prozent verzeichnet. Es ist dringend geboten, diese Entwicklung umzukehren.
In puncto Dekarbonisierung durchlaufen wir zurzeit eine entscheidende Phase. Zwar sieht der Green Deal für jeden Sektor klare Ziele vor, so müssen die Massnahmen zu deren Erreichung noch definiert werden. Und hier wird ein nachhaltiges Europa ohne die Schiene nicht möglich sein. Sowohl bei der Erreichung der ambitionierten Klimaziele als auch bei deren Umsetzung in die Praxis muss die Bahn bei der Dekarbonisierung eine strategische Schlüsselrolle übernehmen. Denn sie bietet eine verfügbare Technologie bei extrem niedrigem CO2-Ausstoss.
Europa hat sich Ziele gesetzt, die in die richtige Richtung führen: Verdoppelung des Güterverkehrs und Verdreifachung des Hochgeschwindigkeitsverkehrs bis 2050. Dies entspricht auch dem Wunsch der europäischen Bürger, die zunehmend bereit sind, auf die Bahn umzusteigen. Allerdings fehlen bislang die Mittel, um dieses ambitionierte Ziel umzusetzen. Die Infrastrukturen veralten und die Unterschiede zwischen den europäischen Staaten treten immer deutlicher zutage. Die Einführung neuer gemeinsamer Standards ist ein langwieriger Prozess. Der freie Wettbewerb allein wird das Europa der Schiene nicht auf den Weg bringen können. Ein Ausbau des Schienenverkehrs für Personen und Güter wird nur mit massivem politischem Engagement möglich sein.
Aus diesem Grund muss die Initiative im Wesentlichen auf zwei Ansätzen beruhen: Erstens: Die Wettbewerbsbedingungen zwischen den Transportarten müssen angeglichen werden. Umweltschädlichere Verkehrsmittel haben ihre externen Kosten, die bisher von der Gesellschaft übernommen werden, künftig selbst zu tragen. Zweitens: Die dem Bahnverkehr seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten zufliessenden Finanzmittel müssen an die Erfordernisse des ökologischen Wandels angepasst werden, damit der Bahnverkehr in Europa die Verkehrsverlagerung bewältigen und mit einer besseren Anbindung über nationale Grenzen hinweg noch effizienter werden kann.
Aus einer zunehmend restriktiven Finanzpolitik ergibt sich die Notwendigkeit, neue Ressourcen zu mobilisieren. Vor diesem Hintergrund müssen die Verkehrsmittel, die der Umwelt am meisten schaden, insbesondere über einen CO2-Marktpreis oder über Gebühren für die Infrastrukturnutzung zur Kasse gebeten werden.
Ein dynamischer Schienenverkehr: Wettbewerb, Infrastruktur, Innovation
Der seit den 2000er Jahren bestehende Wettbewerb im Schienengüterverkehr wird in Zukunft auch auf den Personenverkehr ausgedehnt. Daraus ergeben sich neue Dynamiken. Im Hochgeschwindigkeitsbereich erweitern die Eisenbahngesellschaften ihre Tätigkeitsfelder und dehnen sich über die eigenen Landesgrenzen hinweg aus. So hat sich Trenitalia in die Strecke Paris-Lyon eingeklinkt, und die SNCF stellt seit 2021 über Ouigo España eine Verbindung zwischen mehreren grossen Städten in Spanien her. Durch diese Umstrukturierung des Hochgeschwindigkeitssektors in Europa gewinnt das Schienenangebot an Attraktivität.
Die Fusionierung von Thalys und Eurostar unter dem Dach der Eurostar Group hat einen wichtigen Akteur im europäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr hervorgebracht. Angesichts des schweren Einbruchs, den Eurostar durch die Coronavirus-Krise erlitten hatte, ist dieser Erfolg umso bemerkenswerter. Das Kooperationsprojekt Lyria zwischen der SBB und der SNCF wurde zugunsten eines grösseren Angebots im Personenverkehr zwischen der Schweiz und Frankreich intensiviert. Dies gilt auch für die Alleo-Partnerschaft zwischen der Deutschen Bahn und der SNCF.
Gleichzeitig findet ein Ausbau der Infrastruktur statt. Frankreich und Italien arbeiten Hand in Hand an der neuen Bahnstrecke Lyon-Turin, die den Osten und den Westen Europas vernetzen und dabei die Alpentäler entlasten soll. Die Initiative SERM (Services Express Régionaux Métropolitains), die die französischen Metropolen einbindet, gewinnt zudem an Fahrt.
Neue Hochgeschwindigkeitsprojekte entwickeln sich, insbesondere in Frankreichs Süden mit der neuen Linie Montpellier-Perpignan (LNMP), dem Grossprojekt Süd-West von Bordeaux Richtung Toulouse, Bayonne und Spanien (GPSO) oder der neuen Linie Provence Côte d’Azur (LNPCA). Diese Projekte, die politische Entschlossenheit sowie die Einbindung und Koordination der Akteure des Sektors und eine solide Finanzierung erfordern, werden das nachhaltige Verkehrsangebot in Europa stärken.
Der letzte Pfeiler, auf den sich die Entwicklung des Schienenverkehrs stützt, ist die Innovation. Diese erfolgt vor allem über den Ausbau des ERTMS (European Rail Traffic Management System), des extrem sicheren und hocheffizienten europäischen Zugleitsystems, das die Interoperabilität zwischen den verschiedenen Bahnnetzen Europas garantiert.
Im November 2024 setzte Frankreich mit der Inbetriebnahme des Systems auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke Paris-Lyon, der meistbefahrenen Strecke Europas, einen wichtigen Meilenstein. Im Zuge von Neuanschaffungen soll die Streckenkapazität kontinuierlich erhöht werden: Die Anzahl der pro Stunde und Fahrtrichtung in den Hauptverkehrszeiten verkehrenden Züge soll bis 2030 von 13 auf 16 erhöht werden; das entspricht einem Zuwachs um 25 Prozent. Hier wird der Ausbau des europäischen Schienenverkehrs konkret sichtbar!
Die Eisenbahn gegen CO2-Emissionen
Angesichts der immensen Herausforderungen der Klimakrise wird der Kampf der Eisenbahn gegen die CO2-Emissionen mit jedem Tag dringlicher. Europa hat sich mit seinem Green Deal zum ökologischen Wandel verpflichtet und mit der Dekarbonisierung ein neues industrielles Kapitel aufgeschlagen. Jetzt stehen weitere Massnahmen an, um in der Europäischen Union gerechte, wirkungsvolle Bedingungen für eine nachhaltige Verkehrspolitik zu schaffen.
Die Bahn hat sich zeitgleich mit der noblen Idee einer politischen Einigung Europas weiterentwickelt, das für dauerhaften Frieden und für die Zusammenarbeit zwischen den Staaten und nicht für ungezügelten Wettbewerb eintritt, das auf den Austausch und Dialog und nicht auf Konflikte und Konfrontation setzt, und das kollektive Souveränität nationalen Alleingängen vorzieht. Die Bahn und Europa müssen ihren gemeinsamen Kurs weiter fortsetzen.
Jean-Pierre Farandou, Ingenieur der « École des Mines de Paris », trat 1981 in die SNCF ein. Nachdem er in verschiedenen Verkehrsberufen tätig war und mehrere operative Managementpositionen innehatte, führte er drei TGV-Linien ein: Paris-Lille 1993 als Projektleiter, Thalys 1996 als Generaldirektor von Thalys International und den TGV Méditerranée 2001 als stellvertretender Direktor für Fernverkehrsstrecken.
Anschliessend leitete er die SNCF-Region Rhône-Alpes und übernahm den Posten des Generaldirektors von Keolis Lyon. Ab 2006 gründete und leitete er im Exekutivausschuss der SNCF die Sparte SNCF Proximités, die Transilien, TER, Intercités und die Keolis-Effia-Gruppe umfasst. Im Jahr 2012 wurde er zum stellvertretenden Generaldirektor des SNCF-Konzerns und anschliessend Vorstandsvorsitzender von Keolis. Im November 2019 wurde Jean-Pierre Farandou zum Präsidenten der SNCF-Gruppe ernannt.
Sessionsveranstaltung: Europameister trifft Europameister – Was Frankeich und die Schweiz voneinander lernen können
Frankreich und die Schweiz teilen die Leidenschaft für die Eisenbahn. Entsprechend vielfältig gestalten sich die Beziehungen der beiden Länder – egal ob im Personen- oder im Güterverkehr. Im Rahmen der Winter-Sessionsveranstaltung der LITRA richtete sich Jean-Pierre Farandou, Vorsitzender der französischen Staatsbahnen (Société nationale des chemins de fer français, SNCF), an die rund 110 geladenen Gäste im Bellevue Palace in Bern und tauschte sich im Rahmen einer spannenden Podiumsdiskussion mit seinem SBB-Kollegen, Vincent Ducrot, über die Zukunft des europäischen Schienenverkehrs aus. -> zum Beitrag zur Winter- Sessionsveranstaltung der LITRA