03. 10. 2024
03. 10. 2024
Gastbeitrag: Trassenzuteilung in der Schweiz – eine Bestandesaufnahme
Wie und auf welcher Grundlage werden die Trassen in der Schweiz zugeteilt? Welchen Entscheidungsspielraum gibt es und wer sind die beteiligten Akteure der Branche? In einem dichten, stark ausgelasteten Netz bedarf es klarer Spielregeln, um die Nutzung des Schienennetzes unter angemessen optimierten Bedingungen zu gewährleisten.
Von Floraine Stauffer, Spezialistin Regulationsanalyse und Güterverkehrskorridore bei der schweizerischen Trassenvergabestelle (TVS)
Während die Schieneninfrastruktur als ein natürliches Monopol angesehen wird, besteht im Zugang zum Schweizer Schienennetz für den Gütertransport seit dem Jahr 1999 Wettbewerb. Um eine gleichberechtigte Netznutzung zu sichern und jegliche Diskriminierung von Marktakteuren zu verhindern, hat die Schweiz eine unabhängige Einrichtung ins Leben gerufen, die sich mit den wesentlichen Aufgaben der Schienennetznutzung befasst und weder Infrastrukturbetreiberin (ISB) noch Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) ist: die Schweizerische Trassenvergabestelle (TVS).
In den Zuständigkeitsbereich der TVS fallen die Fahrplanerstellung, die Trassenzuteilung an die Netznutzer, das Inkasso der Trassenbenutzungsentgelte und die betriebliche Führung des nationalen Infrastrukturregisters. Unter einer Trasse versteht man das Recht, mit einem bestimmten Zug eine bestimmte Strecke zu definierten Zeiten zu befahren. Die TVS ist zuständig für die von 13 ISB betriebenen interoperablen Normalspurstrecken der Schweiz. Nicht zuständig ist sie für Strecken, welche für den Netzzugang nicht relevant sind, wie zum Beispiel die Rigibahnen oder die vom Unternehmen Vapeur Val-de-Travers VVT betriebene Strecke von Fleurier nach St. Sulpice.
Auf EU-Ebene haben nur drei Mitgliedsstaaten das Modell einer unabhängigen Trassenvergabestelle gewählt, nämlich Lettland, Luxemburg und Ungarn. In den übrigen Mitgliedsstaaten wird die unabhängige Trassenvergabe entweder durch eine institutionelle Trennung von Infrastruktur und Verkehr oder in Form einer Holding mit selbstständig agierender Infrastrukturbetreiberin garantiert.
Beantragung von Trassen in der Schweiz
2023 haben 41 EVU Trassen für das schweizerische Normalspurnetz bestellt, das in den Zuständigkeitsbereich der TVS fällt. Die verschiedenen Netznutzungswünsche stehen zum Teil in Konkurrenz zueinander. Die TVS koordiniert ohne Diskriminierungsanreiz diese sich gegenseitig behindernden Trassenanträge.
Die EVU reichen ihre Trassenanträge für das folgende Fahrplanjahr jeweils bis zum zweiten Montag im April bei der TVS ein. Die meisten Trassenkonflikte für den Jahresfahrplan, also Anfragen, die nicht unmittelbar bestätigt werden können, betreffen Konflikte zwischen Güterverkehrsunternehmen. Dies sind 65 Prozent aller Trassenkonflikte. Im Personenverkehr ist der Wettbewerb aktuell nicht so stark ausgeprägt. Hier treten Trassenkonflikte im Wesentlichen bei Zusatz- und Verstärkungszügen auf. Grund dafür ist, dass einerseits der Fahrplan in der Regel vom einen zum anderen Fahrplanjahr fortgeführt wird, und andererseits bei neuen Angeboten die Trassen im Netznutzungsplan berücksichtigt sind.
Koordination und gütliche Beilegung von Trassenkonflikten
Bei Trassenkonflikten bemüht sich die TVS zunächst um Alternativen, die das Führen aller betroffenen Züge zu wirtschaftlich tragfähigen Bedingungen zum Ziel haben. Sie sucht mit allen betroffenen Antragstellern das Gespräch, um sich Hintergrundinformationen zum Antrag zu verschaffen und den tatsächlichen Handlungsspielraum im Hinblick auf die Beilegung des Konflikts zu eruieren. Sie achtet darauf, dass die in diesen Einzelgesprächen ausgetauschten Informationen vertraulich behandelt werden. Die Lösungen können Anpassungen seitens der ISB oder der EVU vorsehen.
Hinsichtlich der beiden Nord-Süd-Achsen finden die Verhandlungen auf der Grundlage von Trassenkatalogen statt. Die TVS legt die Reihenfolge der zu behandelnde Konflikte fest.
Zuteilungsprinzipien und Prioritätenregel
Kann ein Trassenkonflikt nicht gütlich beigelegt werden, entscheidet die TVS zunächst auf der Grundlage des Netznutzungsplans (NNP) des betreffenden Jahres (NZV, Art. 12.1). Der durch das Bundesamt für Verkehr genehmigte NNP legt die Verteilung der Kapazitäten für den Fernverkehr, Regionalverkehr, Güterverkehr (einschliesslich der Trassen für 4-Meter-Transporte (SIM-Trassen)) und weitere Verkehrsarten (z.B. Autozüge) für zwei Modellstunden (Regelstunde und Hauptverkehrszeit) je Streckenabschnitt fest. So wird beispielsweise auf der Achse Lötschberg – Simplon zunächst nach einer Konfliktlösung für SIM-Anfragen (4-Meter-Transporte auf dem Streckenabschnitt Brig – Domodossola), in einem zweiten Schritt für Anfragen, die keine SIM-Trassen betreffen, gesucht.
Für den Personenfernverkehr ist das konzessionierte Angebot im NNP detailliert (Halte, Taktung) aufgeführt. Im NNP gesichert ist jedoch lediglich die Anzahl der Trassen. Die veröffentlichten Minuten, Anschlüsse und Durchbindungen haben keinen verpflichtenden Charakter. Trassen für Angebote, die nicht im NNP enthalten sind, können aber im Rahmen des Fahrplanprozesses bei der TVS beantragt werden.
Die freie, über das im NNP gesicherte Ausmass hinaus verfügbare Restkapazität ist begrenzt. Auf den meisten Verbindungen des Netzes gibt es keine oder nur wenige Kapazitäten für zusätzliche Angebote. Die «freie Kapazität» resultiert eher aus gesicherter Kapazität, die nicht nachgefragt wurde.
Die Aufteilung der Kapazität auf die Verkehrsarten in Zeiten grösserer Baustellenprojekte ist ebenfalls in den NNP eingebunden. Grundsätzlich erfolgt die Trassenabsenkung im Verhältnis zu den Verkehrsarten (Netznutzungskonzept 2035).
Die Einhaltung des NNP hat Vorrang. Es gibt jedoch zwei Ausnahmen von dieser Regel: Anträge, die die reservierte Anzahl oder die Qualität der Trassen derselben oder einer anderen Verkehrsart nicht einschränken, werden vorrangig behandelt (NZV-BAV, Artikel 8.2). Wenn darüber hinaus ein Personenverkehrsunternehmen eine Trasse für ein regelmässiges Transportangebot beantragt und diese Trasse im NNP für den Gütertransport vorgesehen ist, kann die Zuteilung unter zwei Bedingungen nach der Conditio-sine-qua-non-Formel erfolgen: Die Trasse wird nur für das nächstjährige Fahrplanjahr zugeteilt, in welchem sie frei blieb, und es ist die ausdrückliche Zustimmung des BAV für das betreffende Fahrplanjahr erforderlich (NZV, Art. 12.3).
Wenn keine gütliche Einigung erreicht werden kann und die Anwendung des NNP keine Ergebnisse bringt, wird auf der Grundlage der Prioritätenregeln entschieden. Bei ausschliesslich den Personenverkehr betreffenden Konflikten haben solche Anträge Vorrang, die aufgrund einer Rahmenvereinbarung gestellt werden (Potestativbedingung, da die ISB derzeit keine Rahmenvereinbarungen anbieten). Reicht das nicht aus, werden Anfragen für den vertakteten Verkehr vorrangig behandelt. Und schliesslich das dritte und letzte Kriterium: Vorrang haben Züge, die den höchsten Deckungsbeitrag an die Fixkosten der Netznutzung liefern (NZV-BAV, Artikel 8).
Bei anderen Konfliktkonstellationen ändert sich die Prioritätenordnung geringfügig. Zunächst haben aufgrund von Rahmenvereinbarungen gestellte Anträge Vorrang. Danach sind Anträge für Güterzüge zu berücksichtigen, für die Alternativlösungen aus technischen Gründen schwer zu finden sind (z. B. das Lichtraumprofil der Züge); dann Anträge für Güterzüge im Rahmen abgestimmter Transportketten und schliesslich Anträge für wiederholt verkehrende Züge in Abhängigkeit ihrer Häufigkeit (NZV-BAV, Art. 8.4). Dieses vierte Kriterium, die Anzahl der Verkehrstage, entscheidet am häufigsten über die Priorität der Trassenzuteilung bei nicht einvernehmlich lösbaren Trassenkonflikten. Konkrete Anwendungsbeispiele für diese Kriterien mit den zu befolgenden Schritten sind auf der Internetseite der TVS verfügbar (Generelle Erläuterungen zur Fahrplannutzung).
In den seltenen Fällen, in denen ein Trassenkonflikt mit Hilfe dieser Prioritätenregeln nicht gelöst werden kann, wird als letztes Mittel auf ein Bietverfahren zurückgegriffen (NZV-BAV, Art. 9). Am Ende des Prozesses können die EVU, deren Trassenantrag abgelehnt wurde, im unterjährigen Fahrplanprozess für die verbliebenen Kapazitäten einen neuen Antrag stellen. Diese werden nach dem Prinzip «first come, first served» zugeteilt.
Die Zuteilungsprinzipien sind in den Verordnungen des Bundes über den Netzzugang sowie in Kapitel 4 der NetworkStatements der jeweiligen ISB aufgeführt, für deren Inhalt hinsichtlich der Zuteilung der Kapazitäten die TVS verantwortlich ist.
Zusatzleistungen
Bestellkonflikte können auch bei Zusatzleistungen entstehen: Kapazitäten für das Abstellen von Eisenbahnfahrzeugen oder die Nutzung von Rangiergleisen und -anlagen usw. In diesem Fall unterscheidet man zwischen Zusatzleistungen, die für die Erbringung einer Grundleistung unerlässlich sind, und Grundleistungen ohne direkten Bezug zu einer Basisleistung. Damit folgt man der Logik der Produzierbarkeit der Verkehrsleistungen.
Sommer 2024 und Bedeutung des NNP
Betrachten wir die komplexe Situation des Sommers 2024. Seit 2021 kündigte DB InfraGO grössere Baustellenprojekte auf der Zulaufstrecke nach Basel bei Rastatt an: eine Sperrung (komplett, dann teilweise) vom 9. bis zum 30. August 2024. Im Durchschnitt verkehren auf dieser NEAT-Achse täglich über 150 Güterzüge. Die zu erwartenden Auswirkungen auf den alpenquerenden Verkehr sind gravierend.
Dies setzt die alternative Strecke der Gäubahn (über Schaffhausen) massiv unter Druck: Die Güterzüge müssen den Raum Zürich durchqueren, wo das Netz bereits stark ausgelastet ist. Um den Anforderungen des Güterverkehrs während dieser Phase bestmöglich zu begegnen und gleichzeitig den Personenverkehr stabil zu halten, haben die involvierten Akteure beschlossen, die Kapazität im Rahmen von Koordinierungstreffen zur Erarbeitung des NNP aufzuteilen. In der Tat liefert das Prinzip der proportionalen Verringerung nach Verkehrsart eine Diskussionsgrundlage, falls bezüglich der Verkehrsabwicklung keine Einigung erzielt werden kann. In diesem Fall wurde jedoch bereits im Vorfeld eine Lösung gefunden. Durch den Verzicht auf bestimmte Verstärkungszüge der S-Bahn Zürich während der Umleitung wurden Kapazitäten für den Güterverkehr geschaffen.
Der enorme Anstieg an Trassenkonflikten im Fahrplanjahr 2024, wie in der vorangehenden Abbildung dargestellt, ist teilweise mit der komplexen Situation zu erklären. Von den 908 Trassenkonflikten fallen 86 Prozent auf die Gotthard-Achse. Während der dreiwöchigen Streckensperrung in Deutschland stellte die TVS allein am Grenzpunkt Singen-Schaffhausen einen Anstieg der Trassenbestellungen für Güterzüge um das Sechsfache im Vergleich zum restlichen Jahr fest.
Herausforderungen
Der Schweizer Trassenvergabeprozess hat sich bewährt. Dennoch sieht sich die TVS mit Herausforderungen bei der Trassenzuteilung konfrontiert. Diese sind einerseits auf die andauernden Kapazitätseinschärnkungen aufgrund von Baustellenprojekten zurückzuführen, welche die Nutzung der Infrastruktur behindern, und andererseits auf die begrenzten Abstellmöglichkeiten.
In diesem Punkt laufen verschiedene Faktoren zusammen: Der Trend zu mehr Diversität bei den Güterloks, die neu angeschafften Züge im Personenverkehr, die parallel zum bereits vorhandenen Rollmaterial getestet werden müssen, sowie die gesteigerte Bautätigkeit, also die Zunahme der Baustellen, sorgen dafür, dass Warenumschlag, Baustellenlogistik und Abstellbedürfnisse miteinander um die Rangiergleise ringen.
Es zeigt sich immer deutlicher, dass nicht so sehr die Trassen, sondern vielmehr die Abstellmöglichkeiten die Schwachstelle sind. Dies führt zu Ersatzlösungen, welche die Produktion der EVU weniger rentabler machen.
Europäische Union
Wie bereits erläutert, kommt es hauptsächlich im Transitverkehr zu Trassenkonflikten für den Jahresfahrplan. Darüber hinaus spielt die Harmonisierung der Prozesse mit den Nachbarländern für die TVS eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund verfolgt sie aufmerksam die Entwicklung des im Sommer 2023 veröffentlichten Gesetzesentwurfs der Europäischen Kommission über das Management der Fahrwegkapazität der Eisenbahn. Der Entwurf der Kommission erinnert relativ stark an die Netznutzungskonzepte und Netznutzungspläne der Schweiz und zielt darauf ab, die internationale Zusammenarbeit im Vorfeld zu erleichtern. Er legt den Fokus stärker auf die Marktbedürfnisse des Güterverkehrs und könnte somit einen positiven Beitrag für die schweizerische Politik der Verkehrsverlagerung leisten.
Fazit
Die im NNP vorgesehene Trassenvergabe in Abhängigkeit von der Verkehrsart wird für die Zuteilung der Trassen immer wichtiger. Doch in dem Masse, wie die Netznutzung erleichtert wird, verdichten und vermehren sich die Bedürfnisse und Konflikte. Die seit 2017 eingesetzten Instrumente für ein nationales Nutzungskonzept des Schienennetzes zeigen Erfolge und führen zu Stabilität und Klarheit. Allerdings stellen die zahlreichen Baustellenprojekte, die in der Schweiz und im Ausland geplant sind, in naher Zukunft die grösste Herausforderung für die TVS und die Bahnbranche dar.
Floraine Stauffer arbeitet seit 2021 für die Schweizerische Trassenvergabestelle, wo sie für verschiedene internationale Projekte mit dem Schwerpunkt Kapazität und Regulierung verantwortlich zeichnet. Darüber hinaus ist sie Mitglied des Management Board des Güterverkehrskorridors Nordsee – Mittelmeer. Zuvor verbrachte sie drei Jahre bei den Transports publics neuchâtelois, wo sie zunächst im Bereich Fahrzeugplanung und fahrendes Personal, dann in der Angebotsabteilung tätig war.
Sie studierte am Global Studies Institute der Universität Genf und schloss mit einem Master European Studies ab. Ihr Interesse für internationale Fragen ist aus den Erfahrungen entstanden, die sie 2014 bei der Forschungsstelle «Diplomatische Dokumente der Schweiz» sammeln durfte. Bevor sie sich in der Schweiz niederliess, lebte sie in Marokko, Vietnam und England.