18. 12. 2023
18. 12. 2023
Gastbeitrag: Ein neuer Fahrplan für Europa
Die europäischen Herausforderungen im internationalen Schienenpersonenverkehr liegen auf der Hand. Europa braucht mehr Bahn – aber die Bahn braucht auch mehr Europa. Wenn alle ihre Hausaufgaben machen, bringen wir gemeinsam mehr Menschen auf die Schiene – vom Nachtzug bis hin zum Hochgeschwindigkeitszug.
Von Andreas Matthä, Vorstandsvorsitzender der ÖBB und Präsident des Europäischen Eisenbahnverbandes CER (Community of European Railway and Infrastructure Companies)
Während wir auf Weihnachten zusteuern, hat das Neue Jahr auf der Bahn bereits begonnen. Am zweiten Sonntag im Dezember wird jedes Jahr der Fahrplan in ganz Europa aktualisiert. So werden wichtige Anpassungen für Fahrgäste gemacht. In der Europäischen Union steht der Fahrplanwechsel erst bevor. 2024 wird ein neues Europäisches Parlament gewählt, und eine neue EU-Kommission wird im Herbst ihrerseits den Fahrplan für die neue Legislaturperiode vorlegen. Die aktuelle EU-Kommission hatte sich mit dem Europäischen Green Deal ehrgeizige Ziele für einen grünen Wandel gesteckt, mit einer Schlüsselrolle für die umweltfreundliche Eisenbahn. Was aber wird der neue EU-Fahrplan für die Bahn bringen? Die europäischen Herausforderungen im internationalen Schienenpersonenverkehr liegen auf der Hand. Nicht alles kann und soll durch die EU gelöst werden, und nicht alle Antworten der EU finde ich richtig. Ungeachtet dessen ist für mich klar: Europa braucht mehr Bahn – aber die Bahn braucht auch ganz dringend mehr Europa!
Mehr Europa statt einem nationalen Puzzle
Europa braucht Menschen in Zügen, statt in Flugzeugen und Autos. Um die gestiegene Nachfrage zu decken und das ganze Marktpotenzial zu heben, muss das „System Bahn“ erst einige Grundvoraussetzungen erfüllen: Eine starke, leistungsfähige Infrastruktur und moderne Betriebsführung. Dann ausreichend Kapazität auf der Schiene und Ordnung im System.
In Europa sind wir leider noch nicht soweit. Hier besteht ein Puzzle an technischen Systemen und regulatorischen Vorgaben. Freier Personenverkehr braucht aber ein durchgängiges Bahnsystem, das nationale Grenzen mühelos überwindet. Es darf nicht mehr sein, dass bei einem internationalen Zug an jeder Grenze die Lokführer wechseln müssen. Oder dass in jedem Land unterschiedliche Sicherheitsvorgaben gelten und Zugsignale andere Bedeutungen haben. Der Bedarf nach Harmonisierung im Bahnbetrieb ist enorm. Wenn wir wettbewerbsfähig mit der Strasse sein wollen, dann brauchen wir Vereinheitlichung und Vereinfachung! Es muss genauso einfach sein, einen internationalen Zug durch Europa zu fahren wie einen internationalen Reisebus oder einen LKW.
Auch beim Infrastrukturausbau und beim Baustellenmanagement brauchen wir mehr Gemeinsamkeit, mehr Koordination.
Daher: Wenn die EU-Kommission ihren neuen Fahrplan erstellt, dann hoffe ich, darin Initiativen für gemeinsame Standards und europäische Koordination zu finden, mit dem Ziel, für die Bahnen endlich ein Single European Railway Area zu schaffen – ganz nach dem erfolgreichen Vorbild des Single European Sky.
Liberalisierungskurs bringt uns nicht ans Ziel
Die aktuelle EU-Kommission erlebe ich als Verwaltung, die fortwährend mit Zielkonflikten kämpft. Um die Green Deal Ziele zu erreichen, haben wir ganz klar Bedarf nach mehr Fairness im Wettbewerb der Verkehrsträger Strasse, Schiene und Flug. Aber ich glaube nicht, dass wir aktuell eine volle Liberalisierung des Bahnverkehrs brauchen, wie es die EU-Kommission offenbar anstrebt. Sie probiert mit den neu vorgelegten Leitlinien für Öffentliche Verkehrsaufträge – sogenannte PSO-Aufträge – Druck in Richtung Ausschreibungspflicht für öffentlichen Schienenverkehr aufzubauen. Das wird meiner Ansicht nach zu keinen Verbesserungen für unsere Kund:innen führen. Denn Fakt ist: Länder, die ihre Schienenverkehrsleistungen direkt vergeben, sind die erfolgreichsten Bahnländer Europas. Das schlägt sich etwa in den durchschnittlichen Reisekosten pro Kilometer nieder, sowie in der Pünktlichkeit. In Europa liegt bei der Pünktlichkeit die Schweiz vor Österreich und Frankreich. Alles Länder mit Direktvergabe.
Nachtzug erfährt eine Renaissance
Ich bin überzeugt: Wenn die EU-Kommission und die Bahnunternehmen ihre Hausaufgaben machen, wird es gelingen, das Marktpotenzial der verschiedenen Zielgruppen zu heben. Dazu gehört auch das Nachtzug-Segment. Die ÖBB sind heute europaweit führend bei Nachtreisen. Aber das ist nicht allein unser Verdienst – grenzüberschreitende Zugverbindungen sind immer Teamwork. Dank dem Teamwork mit SBB sowie DB, NS, SNCB und SNCF ist eine Renaissance der Nachtzüge gelungen.
Laut EU-Kommission ist die Zahl der Nachtzugverbindungen in Europa zwischen 2001 und 2021 um 65% zurückgegangen. Diesen Trend umzukehren, war nicht einfach. Aber das steigende Klimaschutz-Bewusstsein bei der Bevölkerung, vor allem bei der Jugend, hat hier einen Schub gebracht.
Allein: Die Ausgangslage war schwierig, mit einem völlig überalterten Nachtzug-Fuhrpark in Europa. Die ÖBB haben früh entschieden, in eine komplette Modernisierung der Flotte rund 800 Millionen Euro zu investieren. Ein Teil davon fliesst in die komplette Renovierung älterer Wagen. Der grösste Teil mit 720 Millionen ist für 33 Nightjets der neuen Generation.
Hochgeschwindigkeits-Züge sind die Lösung
Heute betreiben die ÖBB gemeinsam mit unseren Partnerbahnen 21 Nightjet-Linien und befördern rund 1,5 Millionen Fahrgäste pro Jahr. Unser Ziel ist eine Verdopplung auf 3 Millionen Fahrgäste bis 2030. Allerdings: Wirtschaftlich ist diese Renaissance des Nachtzuges eine echte Gratwanderung. Das Produkt Nachtzug ist teuer! Ein Sitzplatz in einem Fernverkehrszug wird bis zu viermal pro Tag verkauft, aber jedes Bett in einem Nachtzug nur einmal. Der fahrende Hotelbetrieb ist teuer, die langen Strecken ziehen eine hohe Schienenmaut und hohe Stromkosten nach sich. Solange Wettbewerbsverzerrungen gegenüber Strasse und Flugzeug bestehen, brauchen Nachtzüge mehr politische und finanzielle Unterstützung, um mithalten zu können. Auch hier sehe ich eine konstruktive Rolle für die EU-Kommission.
Trotz der Erfolgsgeschichte Nachtzug möchte ich klar festhalten: Der Nachtzug allein kann nicht die Lösung für die Dekarbonisierung des Verkehrs sein. Er wird ein Nischenprodukt bleiben. Um Kurz- und Mittelstreckenflüge in Europa in grösserem Umfang zu ersetzen, braucht es ein leistungstarkes Netz an Hochgeschwindigkeitsverbindungen zwischen den Hauptstädten und Metropolen Europas. Und da haben wir noch einen weiten Weg vor uns.
Andreas Matthä ist seit 2016 Vorstandsvorsitzender der ÖBB und blickt auf mehr als 40 Jahre Berufserfahrung im Eisenbahnsektor zurück. Er bekleidete eine Reihe von Führungspositionen im ÖBB-Konzern in den Bereichen Eisenbahninfrastrukturprojekte, Personalwesen, Finanzen und Controlling sowie Asset Management. Seit 2020 ist Matthä auch Präsident des Europäischen Eisenbahnverbandes CER und setzt sich auf europäischer Ebene intensiv für bessere regulatorische, wirtschaftliche und technische Rahmenbedingungen für den Bahnverkehr ein.