10. 10. 2024
10. 10. 2024
Gastbeitrag: Fahrerlos in die Zukunft – automatisiertes Fahren als Gamechanger
Die Mobilität steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Automatisierte Fahrzeuge werden in wenigen Jahrzehnten unseren Alltag prägen und einen wichtigen Beitrag zu einer sicheren, verträglichen und kosteneffizienten Mobilität leisten. Die Schweiz bereitet sich heute schon auf diesen Wandel vor.
Von Jürg Röthlisberger, Direktor Bundesamt für Strassen ASTRA
Seit jeher verbinden Strassen Menschen, Orte und Länder. Sie sind die Grundlage für Handel, Kommunikation und Versorgung. Während die Funktion von Strassen konstant blieb, haben sich die Verkehrsmittel stetig gewandelt.
Heute stehen wir unter dem Eindruck der Dekarbonisierung / Elektrifizierung, der technologischen Entwicklungen im Veloverkehr und der Digitalisierung / Automatisierung: Die drei Megatrends werden die Mobilität im Personen- wie im Güterverkehr wesentlich verträglicher, sicherer und effizienter gestalten. Damit werden Verfügbarkeit und Zugang zur Mobilität noch besser sein als heute, was einem Grundbedürfnis von Gesellschaft und Wirtschaft entspricht.
Ein modernes Gesetz für die Mobilität der Zukunft
Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) sieht es als seine Aufgabe, die Chancen der Digitalisierung und Automatisierung bestmöglich zu nutzen. Seit 2023 verfügt die Schweiz über eines der modernsten Strassenverkehrsgesetze weltweit, das Entwicklungen im Bereich des automatisierten Fahrens schnell aufgreift. Bereits 2025 könnten bedingt- und hochautomatisierte Fahrzeuge (Stufe 3 und 4) unter klar definierten Bedingungen auf unseren Strassen zum Einsatz kommen.
So wird es beispielsweise möglich sein, auf Autobahnen einen Staupiloten zu verwenden. Und dies nicht nur, weil es die Fahrzeuge technologisch ermöglichen, sondern auch, weil es der Gesetzgeber zulässt. Auch Pilotprojekte mit führerlosen Fahrzeugen auf öffentlichen Strassen werden weiter ausgebaut.
Wie wird automatisiertes Fahren unseren Alltag prägen?
Während diese Entwicklungen heute futuristisch erscheinen können, wird das automatisierte Fahren in den kommenden Jahrzehnten gelebte Realität und für die Mobilität unverzichtbar sein. Eine Vorstellung dieser Zukunft gibt eine Forschungsarbeit, die im Auftrag des ASTRA erstellt wurde. Diese geht von drei unterschiedlichen Zukunftszenarien aus: «Revolution der kollektiven Mobilitätsservices», «Revolution der individuellen Mobilitätservices» und «Evolution ohne Disruption». In allen drei Szenarien spielen automatisierte Fahrzeuge eine wichtige Rolle. Im ersten Szenario könnten führerlose Shuttles, Busse und Züge bis zu 70 Prozent unseres Mobilitätsbedarfs abdecken.
Auto und klassischer ÖV verlören an Dominanz. Politik und Gesellschaft müssten z. B. nicht mehr einen teuren ÖV-Takt für eine Region oder ein Quartier bestellen, sondern die Erschliessungsqualität sicherstellen. Im Szenario «Revolution der individuellen Mobilitätsservices» spielt das Auto wieder eine grössere Rolle, wobei das Szenario Haushalte ohne eigene Autos vorhersagt. Familien würden das Netz fahrerloser Taxis nutzen.
Der hohe Komfort – man ist allein in seinem Fahrzeug, ohne es steuern zu müssen – würde fast zu einer annähernden Verdoppelung der von Autos zurückgelegten Kilometern im Vergleich zu 2015 führen. Im Szenario «Evolution ohne Disruption» gehen die Forscher davon aus, dass es weder in die eine noch in die andere Richtung grosse Veränderungen geben wird wobei sich Sicherheit und Verträglichkeit verbessern.
Sicherer, Günstiger, effizienter, flexibler
In jedem dieser Szenarien wird die Mobilität günstiger und zugänglicher. Die ASTRA-Studie schätzt, dass die Kosten um bis zu 80 % sinken könnten. Nutzer würden nur noch für die tatsächliche Fahrt zahlen, und die Wettbewerbsdynamik könnte zusätzliche Vorteile bringen. Diese drei Szenarien zeigen:
Die Digitalisierung wird unsere Mobilitätsgewohnheiten massgebend beeinflussen. Wie genau die Zukunft der Mobilität aussehen wird, bleibt abzuwarten, denn Gesellschaft und Politik werden sich hier einbringen müssen und wollen. Wichtig ist, dass wir uns als Gesellschaft auf den Megatrend der Digitalisierung / Automatisierung einlassen und uns einbringen, mithin die Zukunft mitgestalten. Die Potentiale hinsichtlich Effizienz, Kosten, Sicherheit und Verfügbarkeit sind schlicht zu vielversprechend, als dass wir sie ignorieren dürfen.
Leistungsfähige Infrastruktur bleibt Rückgrat der Mobilität
Was aber heute schon klar ist: Auch automatisierte Fahrzeuge benötigen verfügbare, sichere und funktionierende Infrastrukturen. Die bestehenden Strassen müssen so instandgehalten werden, dass sie sicher sind und langfristig zur Verfügung stehen. Punktuelle Ausbauprojekte sorgen zudem dafür, dass der Verkehr auf den Nationalstrassen fliessen kann und die Agglomerationen und Quartiere vor Ausweichverkehr geschützt werden.
Neue Denkweisen für eine zukunftsgerichtete Verkehrspolitik
Wenn wir die Mobilität der Zukunft lösungsorientiert gestalten wollen, müssen wir uns zudem von «liebgewonnenen» Denkmustern im Verkehrsbereich verabschieden. Denn die drei erwähnten Megatrends verändern bisherige Gewissheiten grundlegend:
- Mit der Planung der Strasseninfrastrkturen von morgen, denken wir an die Mobilität von heute. Das ist falsch. Wer Mobilitätslösungen plant, denkt immer an die Mobilität der Zukunft. Und diese ist dank Elektrifizierung und Automatisierung um Grössenordnungen verträglicher und sicherer als heute sowie breit verfüg- und bezahlbar.
- Strasse = motorisierter Individualverkehr = umweltschädigend: Diese Gleichsetzung ist schon heute falsch und ist es morgen erst recht. Wasser, Strasse und Schiene sind Verkehrsträger. Was darauf verkehrt, sind Mobilitätsformen wie Individual- und Langsamverkehr, öffentlicher Verkehr sowie automatisierte On-Demand-Angebote. Für die Umweltbilanz unserer Mobilität sind vor allem die Mobilitätsformen entscheidend. Denn 100 Prozent des Langsamverkehrs und mehr als ein Viertel des öffentlichen Verkehrs verkehren bereits heute auf der Strasse. Gleiches wird auch für automatisierte Fahrzeuge gelten. Das Gleichsetzen der Strasse mit MIV und mit Umweltbelastung ist daher irreführend und falsch. Zudem ist es bereits heute gelebte Realität, dass die unterschiedlichen Mobilitätsformen bewusst kombiniert werden. Künftig wird das Mobilitäts-Verhalten wegen der breiteren Verfügbarkeit und wegen den identischen Verträglichkeiten noch wesentlich opportunistischer sein.
- One fits all: «Man muss nur» hört man viel zu oft. Zum Beispiel müsse man nur den ÖV und das Velo fördern und zudem ein wenig Homeoffice anordnen, und die Verkehrsprobleme seien gelöst. Leider hält sich die Realität nicht an derart simple Postulate. Unsere Realität ist komplex und verlangt, das Eine zu tun und das Andere nicht zu lassen. Will heissen, dass wir einerseits mehr Effizienz aus den bestehenden Angeboten (MIV; Langsamverkehr, öffentlicher Verkehr, neue Angebotsformen) und technologischen Möglichkeiten herausholen und die Potenziale der Elektrifizierung und Automatisierung erschliessen müssen. Andererseits kommen wir nicht darum herum, die Verkehrsinfrastrukturen gut zu unterhalten, punktuell zu ertüchtigen und auszubauen.
Nur wenn wir diese Denkfallen überwinden, können wir die Potenziale der Automatisierung und Elektrifizierung zum Vorteil aller nutzen – und eine Mobilität der Zukunft schaffen, die sicherer, effizienter, kostengünstiger und nachhaltiger ist.
Jürg Röthlisberger ist seit Anfang 2015 Direktor des Bundesamts für Strassen (ASTRA). Der diplomierte Bauingenieur ETH lernte das Bauwesen von Grund auf kennen, in dem er vor dem Studium eine Berufslehre absolvierte. Nach dem Studium war Röthlisberger mehrere Jahre im industriellen Hoch- und Tierbau tätig. Als Geschäftsleitungsmitglied einer auf das Erhaltungsmanagement spezialisierten Ingenieurfirma prägte er unter anderem die Systematisierung der Erhaltungsplanung öffentlicher Infrastrukturen massgeblich mit.
Seit 1997 ist Röthlisberger fürs ASTRA in unterschiedlichen Funktionen tätig. Von 2004 bis 2015 verantwortete er die Tätigkeit der Abteilung Strasseninfrastruktur. Zudem ist Jürg Röthlisberger Mitglied des Vorstands der Beschaffungskonferenz des Bundes (BKB). 2020 war er Präsident der Europäischen Strassendirektorinnen und -direktoren (CEDR).