31. 10. 2023
31. 10. 2023
Gastbeitrag: Ausschliesslichkeit ist kein Ansatz für die Mobilität der Zukunft. Sie verlangt das Miteinander und die Vernetzung
Die Zukunft der Mobilität ist smart. Die Nutzerinnen und Nutzer werden die verschiedenen Mobilitätsformen künftig noch bewusster kombinieren, werden vorbehaltlos ihren jeweiligen Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechend zu Fuss gehen, das Velo, das Auto, den Bus oder den Zug benutzen. Unser Ziel muss sein, die Potentiale der beiden Megatrends Dekarbonisierung/Elektrifizierung und der Digitalisierung/Automatisierung zügig zu erschliessen und damit die Mobilität verträglicher, noch sicherer und weiterhin breit verfügbar zu gestalten.
Von Jürg Röthlisberger, Direktor Bundesamt für Strassen (ASTRA)
«Für Schwarz-Weiss-Denker hört die Welt dort auf, wo sie bunt zu werden beginnt.» Dieses Zitat des österreichischen Schriftstellers Ernst Ferstl sollte man sich zu Herzen nehmen, wenn man über Verkehr und Mobilität spricht. Denn nicht selten werden die Diskussionen rund um die Mobilität verhärtet geführt. So teilen wir Mobilitätsteilnehmende oft in fixe Gruppen wie «Autofahrer», «Velofahrer» oder «öV-Nutzer» ein. Das suggeriert, es gebe entsprechende, strikt voneinander getrennte Mobilitätsgruppen. Die gelebte Realität ist hingegen bereits heute die, dass die allermeisten von uns die verschiedenen Mobilitätsformen sehr bewusst und recht opportunistisch kombinieren. Wir sind zu Fuss unterwegs, mal mit dem Velo, mal mit dem Auto und mal im öV. Dieser Trend wird sich künftig – auch unter dem Aspekt des automatisierten Fahrens – noch verstärken. Die Mobilität der Zukunft verlangt folglich integrales Denken und Handeln – und das im Hier und Jetzt.
Entsprechend arbeiten wir beim Bundesamt für Strassen (ASTRA) nicht nur an der Mobilität von heute, sondern in den Handlungsfeldern Mensch, Fahrzeug, Daten, Finanzen und Infrastruktur auch an derjenigen von morgen. Die Mobilität der Zukunft wird um Grössenordnungen verträglicher und noch sicherer sein als heute. Sie wird weiterhin bezahlbar und breit verfügbar sein müssen.
Es ist daher zentral, dass wir unser Denken und Handeln vorab den verschiedenen Mobilitätsformen und ihrer Verbesserung widmen. Und dass wir uns gleichzeitig vom Gleichsetzen der Verkehrsträger Strasse und Schiene mit den Formen der Mobilität lösen. Damit können die Kategorien des vermeintlich guten und schlechten Verkehrs den Geschichtsbüchern übergeben werden. Denn bereits heute verkehren nicht nur Autos, sondern auch der gesamte Fuss- und Veloverkehr, ein Drittel des öV und 80 Prozent des Binnen-Güterverkehrs auf den Strassen. Digitalisierung und Automatisierung bergen zudem das Versprechen neuer Mobilitätsformen wie beispielsweise eines «öffentlichen Individual-Verkehrs» oder eines «individuellen öV». Dies zugunsten einer grösseren Effizienz, tieferer Gesamtkosten und gleichzeitig einer noch breiteren Verfügbarkeit.
Auch in 100 Jahren werden Wohlstand, Wohlfahrt, Volksgesundheit, Bildung und Kultur einer Gesellschaft starke Infrastrukturabhängigkeiten und einen direkten Zusammenhang mit breit verfügbarer, verträglicher, sicherer und verlässlicher Mobilität haben. Und so werden die Autobahnen, die Schienennetze und die übrigen Strassennetze auch in Zukunft die Regionen der Schweiz vernetzen, Städte und Dörfer erschliessen und entlasten sowie die Schweiz mit den Nachbarländern verbinden. Es ist daher zwingend, dass wir die Verkehrsinfrastrukturen systematisch fit halten und für die kommenden Herausforderungen ertüchtigen.
Damit beispielsweise das Nationalstrassennetz nachhaltig funktionsfähig bleibt, setzen wir auf eine duale Strategie: Zum einen wollen wir den bestehenden Strassenraum zu den Spitzenzeiten besser nutzen. Dies geschieht beispielsweise mit den Anlagen zur Geschwindigkeitsharmonisierung. Mit diesem Instrument verfolgen wir das Ziel, die vorhandenen Kapazitäten in den verkehrlichen Spitzenstunden maximal auszulasten und damit unserer Kundschaft mehr Verlässlichkeit und höhere Sicherheit zu bieten. Zudem können wir damit den für die angrenzenden Dörfer lästigen Ausweichverkehr bestenfalls verhindern bzw. minimieren. Gemäss aktueller Erkenntnis erreicht ein Autobahnabschnitt bei sehr starker Nachfrage seine maximale Kapazität nämlich dann, wenn die Fahrzeuge mit einer Geschwindigkeit von 80 km/h unterwegs sind. Der Grund liegt einerseits darin, dass heute noch «auf Sicht» gefahren wird, womit sich die Anhalte-Sichtweiten bzw. die Abstände zwischen den Fahrzeugen massiv verringen. Anderseits führt eine geringere Maximalgeschwindigkeit in den Spitzenstunden zu einer Reduktion der Überhol- und Verflechtungsvorgänge und damit zu einem harmonischeren Verkehrsfluss und weniger Unfällen.
Die Wirkung dieser Instrumente zur effizienteren Nutzung der vorhandenen Verkehrsfläche ist allerdings recht eng begrenzt. Deshalb müssen wir parallel dazu das Nationalstrassennetz zwingend punktuell ausbauen, so, wie es das Parlament und der Bundesrat beschlossen haben. Denn mit den punktuellen Kapazitätserweiterungen soll insbesondere auch die Resilienz – zum Beispiel die Unterhaltsfähigkeit – des Autobahnnetzes wiederhergestellt bzw. verbessert werden. Betreiber von Hochleistungsnetzen – ob Schiene oder Strasse – stehen heute vor der grossen Herausforderung, den nötigen Unterhalt und die erforderlichen Verbesserungen ihren Infrastrukturen überhaupt noch realisieren zu können, ohne dabei massive Verkehrsbehinderungen oder Angebotseinschränkungen in Kauf nehmen zu müssen. Ohne gezielte, punktuelle Ausbauten und Erweiterungen der Hochleistungsnetze von Strasse und Schiene würden wir künftigen Generationen grosse Einschränkungen ihrer Mobilität aufzwingen. Das sollten wir nicht auf uns nehmen.
Das Eine tun und das Andere nicht lassen scheint uns der richtige Lösungsansatz zu sein. Ebenso wie das zügige Erschliessen der technologischen Potentiale und das Denken und Handeln in Mobilitätsformen statt in Verkehrsträgern. Auf dass wir auch weiterhin mobil sein können – verträglich, sicher, verfüg- und bezahlbar.
Jürg Röthlisberger ist seit Anfang 2015 Direktor des Bundesamts für Strassen (ASTRA). Der diplomierte Bauingenieur ETH lernte das Bauwesen von Grund auf kennen, in dem er vor dem Studium eine Berufslehre absolvierte. Nach dem Studium war Röthlisberger mehrere Jahre im industriellen Hoch- und Tierbau tätig. Als Geschäftsleitungsmitglied einer auf das Erhaltungsmanagement spezialisierten Ingenieurfirma prägte er unter anderem die Systematisierung der Erhaltungsplanung öffentlicher Infrastrukturen massgeblich mit. Seit 1997 ist Röthlisberger fürs ASTRA in unterschiedlichen Funktionen tätig. Von 2004 bis 2015 verantwortete er die Tätigkeit der Abteilung Strasseninfrastruktur. Zudem ist Jürg Röthlisberger Mitglied des Vorstands der Beschaffungskonferenz des Bundes (BKB). 2020 war er Präsident der Europäischen Strassendirektorinnen und -direktoren (CEDR).
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