16. 08. 2018
16. 08. 2018
Die Dichteverteilung rund um öV-Haltestellen
Die meisten Menschen üben tägliche Aktivitäten wie Wohnen und Arbeiten an verschiedenen Orten aus. Die räumliche Trennung der Aktivitäten ist ein Hauptgrund, weshalb überhaupt Mobilität nachgefragt wird. Daher beeinflusst die Verteilung dieser Aktivitäten im Raum, wo wieviel Verkehrsnachfrage auftritt. Die Aktivitätsdichte gibt die Anzahl Aktivitäten pro Flächeneinheit an (gemessen beispielsweise als Einwohner oder Arbeitsplätze pro km2). Der Blogbeitrag von Christian Marti.
In Raum- und Verkehrsplanung wird die Aktivitätsdichte im Einzugsgebiet einer öV-Haltestelle oft verwendet, um abzuschätzen, wie sich die Verteilung der Aktivitäten im Raum auf die öV-Nachfrage auswirkt. Allerdings nimmt die öV-Nachfrage kontinuierlich ab, je weiter man sich von einer Haltestelle entfernt. Daher ist nicht nur die durchschnittliche Aktivitätsdichte innerhalb eines Einzugsgebiets relevant, sondern auch die Verteilung dieser. Sie muss daher genauso in die Planung einfliessen.
Aktivitätsdichte und öV-Nachfrage
Die Anzahl Fahrgäste entscheidet zu einem grossen Teil über Erfolg und wirtschaftliche Machbarkeit eines öV-Systems. Eine der wichtigsten Einflussgrössen auf das Fahrgastaufkommen wiederum ist die Anzahl Aktivitäten mit Zugang zum öV. Diese Zahl ergibt sich einerseits aus der Anzahl Aktivitäten und anderseits aus deren Lage im Raum relativ zu den Zugangspunkten des öV.
In Raum- und Verkehrsplanung wird dieser Einfluss üblicherweise durch die Aktivitätsdichte innerhalb des Einzugsgebiets von öV-Haltestellen erfasst. Dabei werden Einzugsgebiete mittels einer fixen Distanz 1 von Haltestellen definiert: Aktivitäten, die innerhalb dieser Distanz liegen, haben Zugang zum öV, alle anderen nicht.
Dieser Alles-oder-Nichts-Ansatz wird oftmals mit der Annahme eines maximal akzeptablen Zugangs- und Abgangswegs für Fussgänger begründet. Zahlreiche Studien [1 – 4] zeigen allerdings, dass die öV-Nachfrage kontinuierlich abnimmt, je weiter eine Aktivität von der nächsten Haltestelle entfernt ist 2. Das bedeutet, dass es keinen fixen Grenzwert für die Distanz gibt, welche Nutzer des öV als Zugangs- oder Abgangsweg zurückzulegen bereit sind. Entsprechend wird die Nachfrage nicht nur durch die durchschnittliche Aktivitätsdichte im Einzugsgebiet einer Haltstelle beeinflusst, sondern auch durch die Verteilung der Dichte innerhalb dieses Einzugsgebiets 3, d.h. der Distanz einer jeden einzelnen Aktivität vom öV.
Dies kann anhand eines generischen Beispiels nachvollzogen werden. Abbildung 1 illustriert drei unterschiedliche Verteilungen von je 192 Aktivitäten innerhalb des Einzugsgebiets einer öV-Haltestelle. Alle drei Fälle weisen also dieselbe Dichte des Einzugsgebiets auf; sie sind aber aus Sicht des öV nicht gleichwertig. Um diese Unterschiede zu erfassen, muss die Dichteverteilung innerhalb des Einzugsgebiets explizit berücksichtigt werden.
Abbildung 1: Drei generische Beispiele zur Verteilung von 192 Aktivitäten im Einzugsgebiet einer öV-Haltestelle; alle drei Einzugsgebiete weisen dieselbe durchschnittliche Dichte auf, sind aber aus Sicht des öV nicht gleichwertig.
Wie kann die Dichteverteilung aus öV-Sicht bewertet werden?
Als Minimalstandard schlage ich folgende Anforderung vor: Die Aktivitätsdichte soll nicht zunehmen, je weiter man sich von einer Haltestelle entfernt, und „Lücken“ in der Dichteverteilung sind zu vermeiden. Ein gutes Ergebnis wird nach diesem Prinzip erreicht, wenn die Dichte gleichmässig verteilt ist oder mit Nähe zum öV ansteigt. Negativ bewertet werden hingegen Aktivitätskonzentrationen in grosser Entfernung vom öV oder Gebiete mit vergleichsweise 4 tiefer Dichte in der Nähe einer Haltestelle.
Übersetzt in eine quantitative Messgrösse für ein Haltstelleneinzugsgebiet bedeutet dies: Die Dichte soll an keinem Punkt höher sein als die durchschnittliche Dichte aller Punkte, welche näher an der Haltestelle liegen, und an keinem Punkt tiefer als die durchschnittliche Dichte aller Punkte, welche weiter entfernt von der Haltestelle liegen. Umgesetzt werden kann dies beispielsweise mittels Distanzbändern. Eine solche Bewertung der Dichteverteilung sagt nun allerdings nur etwas darüber aus, wie die Aktivitäten relativ zum öV verteilt sind, aber nichts über ihre Anzahl. Ein Haltestelleneinzugsgebiet könnte also ein sehr gutes Ergebnis erreichen, obschon nur sehr wenige Aktivitäten darin vorhanden sind. Daher sollte die Dichteverteilung immer in Kombination mit der Dichte selbst beurteilt werden.
Beispiel: Altstetten und Oerlikon
Abbildung 2 und 3 zeigen als Beispiel die Dichteverteilung innerhalb der 800-Meter-Einzugsgebiete der beiden Bahnhöfe Zürich Altstetten und Zürich Oerlikon. Die beiden Einzugsgebiete weisen eine relativ ähnliche durchschnittliche Aktivitätsdichte auf (19‘947 Aktivitäten pro km2 in Altstetten und 22‘074 in Oerlikon). Eine Analyse der Dichteverteilung mittels 100-Meter-Distanzbändern zeigt allerdings, dass Unterschiede bestehen. In Oerlikon ist aus Sicht des öV die Dichteverteilung beinahe optimal – sie nimmt ab 300 Meter Distanz vom Bahnhof kontinuierlich ab. Einzig die Zunahme der Dichte mit der Distanz innerhalb von 300 Metern widerspricht den Modellvorgaben. In Altstetten hingegen ist die sehr hohe Dichte in unmittelbarer Bahnhofsnähe positiv hervorzuheben, dafür besteht im Distanzband von 200 – 300 Metern eine „Lücke“ in der Dichteverteilung. Eher ungünstig ist hier auch die Zunahme der Dichte gegen den Rand des Einzugsgebiets.
Abbildung 2: Dichteverteilung im 800-Meter-Einzugsgebiet um den Bahnhof Zürich Altstetten sowie Bewertung mittels Distanzbändern
Aktivitäten = Einwohner + Arbeitsplätze
Datenquellen: Einwohner GWS 2014 [5]; Arbeitsplätze STATENT 2013 [6]; Lage Bahnhöfe [7]; Kartenhintergrund [8]
Abbildung 3: Dichteverteilung im 800-Meter-Einzugsgebiet um den Bahnhof Zürich Oerlikon sowie Bewertung mittels Distanzbändern
Aktivitäten = Einwohner + Arbeitsplätze
Datenquellen: Einwohner GWS 2014 [5]; Arbeitsplätze STATENT 2013 [6]; Lage Bahnhöfe [7]; Kartenhintergrund [8]
Anwendung in der Praxis
Die Unterschiede in der Dichteverteilung zwischen den beiden Beispielen in Abbildung 2 und 3 zeigen die praktische Relevanz des Appells, neben der Aktivitätsdichte auch ihre Verteilung zu berücksichtigen. Dies kann je nach Anwendungsfall unterschiedlich geschehen. Am einfachsten ist eine qualitative Interpretation von Dichtekarten und Diagrammen zur Dichteverteilung (wie in Abbildung 2 und 3). Eine neu zu entwickelnde Kennzahl könnte hingegen Unterschiede in der Dichteverteilung systematisch messen. Haupteinsatzgebiet beider Methoden ist der Vergleich von Varianten für die künftige Entwicklung, beispielsweise zur Lage künftiger öV-Haltestellen oder zu einem Zonen- oder Gestaltungsplan. Eine Kennzahl könnte zudem hilfreich sein, um das Nachfragepotenzial von Haltestellen oder ganzen Linien besser abzuschätzen.
Hinweis: Dieser Artikel basiert auf meiner Dissertation „Quantitative assessment of public transport and built environment integration at the neighborhood scale“, welche im Laufe des Jahres 2018 veröffentlicht wird. Darin befindet sich u.a. eine ausführliche Abhandlung über verschiedene Möglichkeiten, die Aktivitätsdichteverteilung aus Sicht des ÖV quantitativ zu bewerten. Ebenso werden darin zwei von mir entwickelte quantitative Indikatoren auf Fallstudien in den Niederlanden und der Schweiz angewandt.
1 Zum Einsatz kommen in der Praxis sowohl Luftlinien- wie auch Fusswegdistanzen; letztere sind genauer und daher vorzuziehen, das Prinzip ist aber in beiden Fällen identisch.
2 Die genaue Form dieser Abnahme ist umstritten; allerdings zeigen alle Studien [1 – 4] als klare Tendenz eine mindestens lineare Abnahme der Nachfrage mit der Distanz ab einem Grenzwert von 0 bis ca. 200 Metern.
3 Die Verwendung fixer Distanzen zur Definition eines Haltestelleneinzugsgebiets sollte ebenfalls hinterfragt werden, da die Nachfrage ja an keinem Punkt abrupt einbricht. Allerdings zeigen die erwähnten Studien [1 – 4] auch, dass ab einer gewissen (je nach Kontext stark unterschiedlichen) Distanz die Nachfrage verschwindend klein wird. Daher erscheint das Konzept des Einzugsgebiets zumindest teilweise berechtigt und wird in diesem Beitrag weiterhin verwendet.
4 Verglichen mit der durchschnittlichen Dichte im Haltestelleneinzugsgebiet.
Quellen
[1] Walther, K. (1973) Nachfrageorientierte Bewertung der Streckenführung im öffentlichen Personennahverkehr, Dissertation, TH Aachen, Aachen.
[2] Zhao, F., L.F. Chow, M.T. Li, I. Ubaka und A. Gan (2003) Forecasting transit walk accessibility – Regression model alternative to buffer method, Transportation Research Record, 1835 34-41.
[3] Gutiérrez, J., O.D. Cardozo und J.C. García-Palomares (2011) Transit ridership forecasting at station level: an approach based on distance-decay weighted regression, Journal of Transport Geography, 19 (6) 1081-1092.
[4] El-Geneidy, A., M. Grimsrud, R. Wasfi, P. Tetreault und J. Surprenant-Legault (2014) New evidence on walking distances to transit stops: identifying redundancies and gaps using variable service areas, Transportation, 41 (1) 193-210.
[5] BFS (2016a) Gebäude- und Wohnungsstatistik (GWS), Stand 2014, Dataset, Bundesamt für Statistik, Neuchâtel.
[6] BFS (2016b) Statistik der Unternehmensstruktur (STATENT), Ausgabe 2013, Dataset, Bundesamt für Statistik, Neuchâtel.
[7] BAV (2015) Haltestellen des öffentlichen Verkehrs, Dataset, Bundesamt für Verkehr, Bern.
[8] OpenStreetMap contributors (n.d.) OpenStreetMap, Web Page, http://www.openstreetmap.org, Zugang 03.05.2018
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