16. 12. 2019

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16. 12. 2019

Der Ceneri-Basistunnel stärkt den öV im Tessin

Ein hoher Motorisierungsgrad und eine tiefe öV-Nutzung – so lässt sich der Verkehr im Tessin treffend umschreiben. Vor allem der Pendlerverkehr findet auf der Strasse, im Auto statt. Bund, Kanton und Gemeinden wollen nun Gegensteuer geben. Die Eröffnung des Ceneri-Basistunnels wird genutzt, um ein schnelleres und dichteres Angebot zu fahren. Im Fernverkehr, im Regionalverkehr und im Ortsverkehr des Südkantons. Christian Marti hat recherchiert, was sich ändert.

Im Dezember 2020 geht der Ceneri-Basistunnel (CBT) in Betrieb. Neben schnelleren und häufigeren nationalen und internationalen Bahnverbindungen eröffnet dies auch neue Möglichkeiten für den Regionalverkehr und die Raumstruktur im Kanton Tessin: Die Reisezeiten zwischen Sopra- und Sottoceneri halbieren sich (siehe Abbildung 1 und Tabelle 1).

Damit nähern sich insbesondere die Agglomerationen Bellinzona–Locarno nördlich des Ceneri und Lugano im Süden zeitlich stark an. Es besteht damit die Möglichkeit, dass die stark urbanisierten Teile des Kantons zu einer «Città Ticino», einer einzigen grossen Agglomeration, zusammenwachsen.

Die Regierung des Kantons Tessin will zusammen mit den Gemeinden die Chancen des neu eröffneten CBT ausschöpfen. Aus diesem Grund wird das gesamte Angebot des öffentlichen Verkehrs mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2020 angepasst und stark ausgebaut. Nach langjähriger Planung wurde das neue Angebot im Oktober dieses Jahres vorgestellt.

Der öV im Kanton Tessin

Im Vergleich zu den meisten anderen Kantonen war das öV-Angebot im Kanton Tessin lange dürftig; zudem erschwert die Topographie mit zahlreichen abgelegenen Tälern und Ortschaften eine flächendeckende Versorgung. Kennzahlen verdeutlichen dies: Der Modalsplit im Pendlerverkehr lag 2017 bei 18.1% öV-Anteil (Schweiz: 30.6%) und 68.3% motorisiertem Individualverkehr (Schweiz: 53.8%). Die Agglomerationen des Tessins zeigen ein ähnliches Bild beim Modalsplit im Gesamtverkehr (Abbildung 2). Zudem weist das Tessin einen hohen Motorisierungsgrad von 635 Personenwagen pro 1000 EinwohnerInnen auf (Schweiz: 543).

Allerdings wurden in den letzten Jahren zahlreiche Anstrengungen von Kanton und Gemeinden unternommen, um eine koordinierte Verkehrspolitik zu gestalten und den öV im Kanton sowohl für BewohnerInnen und TouristInnen attraktiver zu gestalten. Insbesondere die Einführung des binationalen S-Bahn-Systems TILO ab Dezember 2004 sowie dessen zahlreiche Erweiterungen in den Folgejahren hat den öV für Fahrten zwischen den vier Agglomerationen Locarno, Bellinzona, Lugano und Mendrisio und einigen Städten in Italien attraktiv gemacht. Für Fahrten von und nach abgelegenen Gebieten und für Freizeit- oder Einkaufsreisen bleibt der öV allerdings wenig konkurrenzfähig gegenüber dem motorisierten Individualverkehr.

Aktuelles Angebot

Das öffentliche Verkehrssystem des Kantons Tessin basiert auf drei Hauptpfeilern:

  1. Das Bahnnetz bildet das Rückgrat des ÖV. Auf den Linien Basel/Zürich–Bellinzona–Lugano–Mailand und Bellinzona–Locarno verkehrt nationaler und internationaler Verkehr. Zusätzlich besteht ein regionales Angebot der Treni Regionali Ticino Lombardia TILO, der Ferrovie Luganesi FLP (Lugano–Ponte Tresa) und Ferrovie Autolinee Regionali Ticinesi FART (Locarno–Domodossola).
  2. Das Regionalbusnetz bindet die Peripherie an städtische und regionale Zentren an und stellt die Mobilitätsgrundversorgung der gesamten Bevölkerung sicher.
  3. In den vier Agglomerationen Bellinzona, Locarno, Lugano und Mendrisio bestehen städtische Busnetze.

Die Buslinien sind stark auf das Bahnnetz und insbesondere das TILO-Angebot ausgerichtet (siehe Abbildung 4 weiter unten). Die Agglomerationen des Kantons sind tagsüber durch Taktüberlagerungen alle 30 Minuten miteinander verbunden und zusätzlich in das Fernverkehrsnetz integriert. Zudem sind 82 Regional- und 21 Stadtbuslinien in Betrieb.

Angebot 2021

Das Angebot 2021 soll die Möglichkeiten des CBT so nutzen, dass der ÖV so gut wie möglich zur Realisierung einer «Città Ticino» beiträgt. Der Kern des neuen Angebots bildet das ausgebaute und durch den CBT beschleunigte TILO-Angebot. Gleichzeitig werden das regionale und die städtischen Busnetze so angepasst, dass sie konsistenter werden und stärker mit dem Bahnverkehr integriert sind. Das Angebotskonzept (siehe Abbildung 3) sieht eine Systematisierung des Angebots vor.

Im Bahnverkehr wird dieses Konzept durch folgende Anpassungen umgesetzt (siehe Abbildung 4):

  • Die Linie S10 (heute Bellinzona–Mendrisio–Como) wird neu durch den CBT geführt (und damit beschleunigt) und im Norden bis Biasca (und einzelne Züge bis Airolo) verlängert; sie verkehrt weiterhin im 30-Minuten-Takt mit Verstärkungszügen in der Hauptverkehrszeit.
  • Die Linie S20 (heute Biasca–Bellinzona–Locarno) verkehrt dafür nur noch bis Castione-Arbedo; sie verkehrt weiterhin im 30-Minuten-Takt.
  • Die Linie S50 (heute Bellinzona–Mendrisio–Varese–Malpensa) wird neu durch den CBT geführt (und damit beschleunigt) und nördlich bis Biasca verlängert. Sie verkehrt wie bisher im 60-Minuten-Takt und wird nördlich von Mendrisio als Flügelzug zusammen mit der S10 geführt.
  • Die neue Linie S90 verkehrt im 30-Minuten-Takt über die Bergstrecke am Ceneri zwischen Giubiasco–Rivera–Bironico–Lugano–Mendrisio (60-Minuten-Takt zwischen Lugano und Mendrisio).
  • Die neue Linie RE80 verkehrt im 30-Minuten-Takt durch den CBT zwischen Locarno–Lugano–Chiasso–Milano (60-Minuten-Takt zwischen Chiasso und Milano).

Unverändert verkehren die Linien S30 Cadenazzo–Luino–Gallarate (120-Minuten-Takt) und S40 Como–Mendrisio–Varese (60-Minuten-Takt).

Sowohl Regional- wie auch Stadtbuslinien werden ausgebaut und an das neue Bahnangebot angepasst. Grundlage für das Busnetz bilden hauptsächlich die vier Agglomerationsprogramme 3. Generation des Kantons Tessin. Insgesamt sieht das Angebot 2021 eine Steigerung der Fahrzeugkilometer von 59% im Regionalverkehr (inkl. Eisenbahn) und 47% im Stadtverkehr verglichen mit 2018 vor. Es werden voraussichtlich rund 250 neue Busfahrer eingestellt.

Als Beispiel für den Ausbau im Busverkehr bietet sich die Stadt Lugano an. Dort wird das Angebot bei den Stadtbuslinien insbesondere durch Taktverdichtungen abends verbessert: Auf fünf der sieben städtischen Linien verkehren die Busse ab 2021 wochentags zwischen 20:00 und 24:00 neu alle 15 anstatt wie bisher alle 30 Minuten. Zusätzlich wird der Takt dreier Buslinien auch während der Haupt- und Nebenverkehrszeit verstärkt.

Auch im Umland von Lugano wird das Busangebot stark ausgebaut. So werden beispielsweise im Malcantone neue Linien eingeführt und bisherige Linien neu verknüpft, um die räumliche Abdeckung und die angebotenen Verbindungen zu verbessern. Zudem werden die Betriebszeiten stark ausgebaut: Bisher verkehren alle Buslinien im Malcantone auch wochentags nur bis 18:00 oder 20:00, neu verkehren die meisten davon bis Mitternacht (zumindest an Wochentagen, in einigen Fällen auch am Wochenende). Viele Busse fahren nun im Stundentakt.

Kosten und Abgeltungen

Der Kanton Tessin, die Tessiner Gemeinden und der Bund lassen sich den Ausbau des öffentlichen Verkehrs einiges kosten: Im Vergleich zum Fahrplanjahr 2018 nehmen die Abgeltungen für das Angebot 2021 über 55% zu, der Anteil des Kantons sogar um über 75%. Der Kanton wird pro Jahr rund 40 Millionen Franken mehr als heute an Abgeltungen bezahlen, die Gemeinden zusätzlich rund 20 Millionen Franken mehr (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2 zeigt auch, dass die Kosteneffizienz pro Fahrzeugkilometer sowohl im Regional- wie auch im Stadtverkehr zunimmt, da die prozentuale Kostensteigerung geringer ausfällt als die Zunahme des Angebots in Fahrzeugkilometern. Allerdings geht der Kanton von einer geringen Zunahme der Einnahmen aus, um 26% im Regional- und 5% im Stadtverkehr. Der Kostendeckungsgrad nimmt dadurch ab: von 34% auf 29% im Regionalverkehr und von 42% auf 34% im Stadtverkehr.

Ausblick

Die Botschaft des Staatsrates und der zugehörige Kreditantrag wurden am 16. Oktober 2019 publiziert. Eine Genehmigung durch den Grossen Rat wird Ende 2019 oder Anfang 2020 erwartet. Vom 27. Mai bis 14. Juni 2020 können im Rahmen des Fahrplanverfahrens Stellungnahmen zum Detailkonzept eingereicht werden. Die Inbetriebnahme des neuen Angebots ist auf den Fahrplanwechsel am 13. Dezember 2020 geplant.

Zum Autor

Christian Marti hat am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich doktoriert. Er schreibt regelmässig Blogartikel zu Mobilitätsthemen für die LITRA.

Hinweis

Die LITRA lädt am 28. Mai 2020 ihre Mitglieder ein, den Ceneri-Basistunnel exklusiv zu befahren. Dabei stellen wir auch das neue öV-Angebot im Tessin vor. Der Besuch findet im Rahmen der jährlichen Informationsfahrt statt.

Quellen / Links

Pressemitteilung zur Botschaft des Staatsrates: https://www4.ti.ch/area-media/comunicati/dettaglio-comunicato/?NEWS_ID=186489&cHash=ef3f7baa8649a3f9a92a15db5e674546

Botschaft des Staatsrates: https://www3.ti.ch/COMUNICAZIONI/186489/M7733.pdf

Präsentation zur Botschaft: https://www3.ti.ch/COMUNICAZIONI/186489/20191021%20Conferenza%20stampa%20TP2021%20presentazione_v3.pdf

Bericht zur Planung der regionalen Angebote: https://www4.ti.ch/fileadmin/DT/temi/trasporti_pubblici/intimazione/TP2021_Luganese_Regionale_Intimazione.pdf

Angaben zum Modal Split im Pendlerverkehr und zum Motorisierungsgrad: https://www.atlas.bfs.admin.ch/de/index.html

Fahrplan 2019 für das Tessin: https://www4.ti.ch/fileadmin/DT/temi/trasporti_pubblici/documenti/Orari_ufficiali_Ticino_Moesano_Giugno2019.pdf